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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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und es stimmt, dass kein Priester das Laken gesegnet hat, auf dem ich geboren wurde: Aber die Indianer haben mich nie so genannt …«
    Er war verloren in seinen eigenen Träumen: kein Wunder, dass ihm die Vision des Jungen entglitt. Wenn diese Nacht vorüber ist, dachte sie, wird er sein Leben neu zusammenfügen. Er hat ein Heim, und er hat ein Ziel.
    Aber was ist mit mir? Sie war zu Johnny Kindreds Schatten geworden, sie hatte ihn getröstet, hatte seine Hand gehalten, wenn er sich dem Dunkel stellte. Aber wenn er siegt, wenn er geheilt wird, was wird dann aus mir?
    Sollte sie als Bürgersfrau in San Francisco leben? Oder nach Aix-en-Provence zurückkehren, zu ihrer Familie, die sie so unbekümmert verlassen hatte, der sie nicht einen einzigen Brief in all den Jahren geschrieben hatte? Wohin konnte sie sonst zurückkehren? Zu Sigmund Freud?

    Zu ihrer eigenen Überraschung fiel ihr auf, dass sie seit vielen Wochen kein Koka-Pulver mehr genommen hatte - und dass sie es nicht einmal bemerkt hatte. Seit jenem Augenblick, als sie sich allein in den Wald gewagt hatte, brauchte sie vor der Realität nicht mehr zu flüchten.
    Vor ihr ragte Weeping Wolf Rock auf, durchbrach den Nebel - die Prozession hielt an. Die Musik verklang. Eine einzige Trommel schlug weiter im Einklang mit dem Rhythmus des Universums. Unmöglich zu sagen, ob es Tag oder Nacht war oder welche Jahreszeit sie umgab, denn der Wind, der sie mit kalten Schneeflocken ärgerte, trug auch den Geruch des Frühlings. Es war dunkel, aber die Dunkelheit ging mit dem Tageslicht schwanger. Die Indianer und die Menschen aus Winter Eyes versammelten sich um Johnny.
    »Welch kosmische Pracht! Welch ernster und zugleich heiterer karmischer Wendepunkt unserer Existenz, nicht wahr, Gräfin?« Sie blickte hinunter und sah eine Gestalt, an die sie sich kaum noch erinnern konnte: den indischen Astrologen Shri Chandraputra. »Es ist mir unmöglich, der Tragweite dieses Augenblickes Ausdruck zu verleihen; wir erleben im wahrsten Sinne des Wortes die Geburt eines neuen Zeitalters.« Er stolzierte herum, einen juwelenbesetzten Turban auf dem Kopf und seinen schwarzen Diener an seiner Seite, der ein Tablett mit Schreibutensilien trug, und machte sich Notizen in ein kleines Buch. »Den astralen Konjunktionen zufolge«, dozierte er, »koinzidiert der heutige Vollmond mit einem großen Kreis der Venus und einer großen Peregrination der äußeren Planeten …« Sie wunderte sich, dass er noch an solche Dinge denken konnte. Er tanzte linkisch neben den anderen her.
    Dann wandte sich Johnny ihr zu, rief sie mit einem Blick herbei, der befehlend und bittend zugleich war. Teddy stieg ab, half Speranza von ihrem Pferd und führte sie zu ihm, ins Zentrum eines Kreises.
    Johnny und der Häuptling der Shungmanitu unterhielten
sich in wohltönenden, sanften Lauten. Eine Pfeife wurde von Hand zu Hand gereicht, der Übergebende murmelte dabei »Na« und der Entgegennehmende »Ku«. Der Rauch aus der Pfeife war die Quelle des Nebels, der sie umgab. Sein süßer Duft mischte sich mit dem Geruch von jungem Gras, das aus dem Boden brach, von faulendem Laub, heißem Sommerwind und Schneestürmen … all dies schien aus der heiligen Pfeife aufzusteigen. Und immer noch schlug die eine Trommel den Takt, bis ihr Herzschlag damit übereinstimmte. Sie stand vor Johnny und begriff, dass er am Ziel seiner Reise angekommen war.
    Die Erde erbebte.
    »Die Elfte Kavallerie«, erklärte Teddy leise. »Keine Ahnung, wie weit sie noch entfernt ist.«
    Ein Indianer kniete nieder, legte sein Ohr auf den Boden. »Viele Pferde«, sagte er nur.
    »Das ist Sanderson«, prophezeite Teddy. »Er will uns niedermachen.«
    »Wenn mein Traum besteht«, versprach Johnny, »dann kann er uns nichts anhaben.«
    »Du wirst sterben, Johnny«, widersprach Teddy, »wenn wir die Soldaten nicht aufhalten können.«
    »Beschütze uns«, befahl Johnny mit ruhiger, aber autoritärer Stimme.
    Das Donnern kam näher. Sie wusste nicht, ob sie oder der Boden bebte. Sie bekam entsetzliche Angst.
    »Ich und Iron Hand können sie vielleicht ein paar Stunden aufhalten«, antwortete Teddy, »aber wenn du deinen Mondtanz tatsächlich hier abhalten willst, im Schatten von Weeping Wolf Rock, dann können wir paar Männer nicht viel gegen eine ganze Truppe ausrichten.«
    »Aber Teddy, wir werden nicht hier tanzen«, erwiderte Johnny. »Ich habe den Platz des Mondtanzes in einem Traum gesehen. Heute wird die Dunkelheit finsterer sein als

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