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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Ahnung, wovon Sie sprechen, Graf.«
    »Bitte verzeihen Sie mir. Wenn der Mond zunimmt, schweife ich immer ab. Damit mache ich das wett, was ich in der Zeit versäume, in der ich zu einem menschlichen Gespräch nicht fähig bin.«
    Meine Güte, dachte Speranza, der ist ja mindestens so verrückt wie der Junge! Wer war eigentlich dieser Dr. Szymanowski? Bestimmt der Leiter einer Irrenanstalt. Und sie brauchten Johnny. Für ihre Experimente vielleicht. Speranza hatte Frankenstein gelesen. Sie wusste, wozu Wissenschaftler fähig waren. Sie fragte sich, ob das junge Mädchen, das mit Johnny allein war, tatsächlich ein Dienstmädchen -
    »Sie weiß von nichts«, sagte der Graf von Bächl-Wölfling.

    »Sie können Gedanken lesen, Graf?«
    »Nein. Aber ich bin ein sehr guter Beobachter«, erklärte er beruhigend. »Ich weiß zum Beispiel, dass Ihre Verkleidung als prüde, strenge Gouvernante nur ein Schutzschild ist, hinter dem sich eine sehr leidenschaftliche Frau verbirgt; eine Frau, die bereit ist, erstaunliche Risiken einzugehen; eine gefährliche Frau; eine Frau, die Dinge faszinieren, vor denen andere Frauen zurückschrecken; eine Frau, die zu tiefer, verzehrender Liebe fähig ist.«
    Speranzas Herz begann wild zu schlagen. »Graf, ich bin vielleicht moderner als die meisten Frauen meiner Profession, aber wir kennen uns erst seit sehr kurzer Zeit. Und auch wenn die Standesunterschiede so groß sind wie zwischen uns, glaube ich nicht, dass es sich ziemt, solche …«
    »Sie irren sich, Speranza. Ich begehre Sie, aber … es gibt Dinge, ohne die man leben kann. Nur der Junge ist wichtig. Er ist etwas ganz Neues, verstehen Sie, ein ganz neues Wesen. Aber ich sehe, dass Sie mich nicht begreifen.« Er seufzte; wieder schien ein Hauch von Trauer in der Luft zu liegen. »Ich bin ungerecht Ihnen gegenüber … aber glauben Sie mir, ich würde nicht solche Dinge über Sie sagen, wenn ich nicht zuvor umfassende Nachforschungen über Ihren Charakter hätte anstellen lassen.«
    »Mein Charakter ist untadelig!«, wehrte sich Speranza. Sie fühlte sich auf beängstigende Weise verletzlich, denn der Graf hatte ihr die Maske weggerissen, die sie unter so großen Mühen angelegt hatte, und als billige Selbsttäuschung entlarvt. »Wie können Sie es wagen, in meinem Leben herumzuschnüffeln, wie können Sie es wagen, mich hierher bringen zu lassen? Ich glaube, unter diesen Umständen ist es besser, wenn ich sofort gehe.«
    »Natürlich. Aber zuvor sollte ich Ihnen vielleicht noch etwas sagen.«
    »Wir haben einander nichts mehr zu sagen …«

    »Außer, Mademoiselle Martinique, dass ich Ihr Auftraggeber bin.«
    »Sie! Sie haben sich bei Lord Slatterthwaite gemeldet - Sie haben Cornelius Quaid zum Bahnhof geschickt …« Speranza zitterte jetzt, fühlte sich so verloren und hilflos wie der arme, wirre Johnny Kindred, der nicht mehr wusste, ob er ein Mensch war oder zwei.
    Der Graf lächelte nur und schenkte ihr ein neues Glas Wein ein.

5
    Dakota-Territorium
    Durch den Wald, nach Süden, zum Platz des Mondtanzes; auf den Bergkuppen glitzerte der Frost; die alte Frau und der Wolf, ihre Schwester. »Chuwitamateyela kte«, rief die alte Frau, »ich bin schon halb erfroren.«
    Der Wolf antwortete in der Sprache der Nacht, obwohl die Nacht noch nicht gekommen war. Dennoch verstanden sie einander, denn beide hatten schon viele Male in ihrem langen Leben die Grenze zwischen den zweibeinigen und den vierbeinigen Wesen überschritten. Die alte Frau versuchte, nicht an die Menschen zu denken, die sie zurückgelassen hatte: ihren Sohn Ishnazuyai, der seit vielen Sommern Blotahunka - Kriegshäuptling - der Shungmanitu war; sie war stolz, dass er seine Gefühle beherrscht hatte, als sie gegangen war. Und die Frauen ihres Sohnes, vor allem Tiptowin, die jüngste, Mutter ihres Enkelkindes Mahtohokshila. Diese Namen werden mir nichts mehr bedeuten, dachte sie, denn ich und Mitankala haben von nun an keinen Namen mehr, den ein Mensch aussprechen kann.
    Manchmal liefen sie, manchmal schlitterten sie die rutschigen
weißen Abhänge hinab. Die Wolfsschwester war nicht mehr leichtfüßig, und die alte Frau war fast blind. Obwohl überall nur weißer Schnee zu sehen war, machte das keinen Unterschied, denn die Wolfsschwester konnte sich am Geruch des Windes orientieren.
    Einmal fragte die alte Frau ihre Schwester: »Warum verzehrst du mich nicht gleich? Ich glaube nicht, dass ich den Platz des Mondtanzes noch erreichen werde. Ich werde niemals zusammen mit

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