Wolfsruf
aber sie konnte nicht erklären, warum sie so empfand. Sie sah ihn nicht an, während sie erzählte. Sie schaute hinaus auf die Felder, die von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt wurden. »Es war einmal ein kleines Mädchen …«
»Ein Junge.«
»… der Rotkäppchen hieß und am Rande eines großen
Waldes lebte.« Als sie an die Stelle kam, wo der Wolf sich ins Bett der Großmutter legt, klammerte sich der Junge ängstlich an sie, aber in seiner Angst lag auch so etwas wie Lust. Sie hatte immer schon gewusst, dass Kinder nicht so unschuldig waren, wie die Engländer annahmen. Aber der Gedanke, dass der Junge sich an ihrem Unbehagen erfreute, dass er sie unbewusst ausnutzte … und trotzdem hatte er sie bereits in sein Herz geschlossen, davon war sie überzeugt. Also erzählte sie weiter: »Und der Wolf sagte: ›Damit ich dich besser fressen kann, mein kleiner Junge.‹ Und er schlang den kleinen Jungen mit einem Bissen herunter. Doch am nächsten Tag kam ein Jäger …«
»Das reicht. Das mit dem Jäger erzählen sie bloß, damit die kleinen Kinder sich nicht fürchten. Aber wir beide kennen die Wahrheit, oder nicht?«
»Die Wahrheit?« »Dem Jäger ist das ganz egal. Und selbst wenn der Junge in dem Wolf noch lebt, dann würde er ja alle beide töten, wenn er den Wolf erschießt, stimmt’s, Speranza?«
»Es ist doch nur ein Märchen«, beschwichtigte sie ihn. Die sexuelle Spannung war weg. Vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet; wie sollte ein siebenjähriger Junge, auch wenn er tief verstört war, sie so manipulieren können?
»Es ist kein Märchen, Speranza. Glaub mir. Und wenn du mir nicht glauben willst, dann unterhalte dich später mal mit Jonas.« Kurz darauf übermannte ihn der Schlaf; das monotone Schienengeräusch hatte ihn eingeschläfert. Sie deckte ihn zu, dann saß sie lange neben ihm und dachte nach. Sie hatten die Essenszeit im Speisewagen verpasst.
Es klopfte an der Tür.
»Darf ich eintreten?«, fragte eine schleimige Stimme auf Deutsch; die Stimme eines Speichelleckers; keine Stimme für einen Bahnbeamten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
»Je m’excuse«, antwortete sie auf Französisch, »je ne comprends
pas l’allemand.« Dann fügte sie auf Englisch hinzu: »Bitte, Sir, ich verstehe kein Deutsch.«
Sie schob den Riegel der Abteiltür zurück.
Ein Mann im Abendanzug stand vor ihr, sehr steif und korrekt. Er trug ein silbernes Tablett. »Verzeihen Sie, Fräulein Martinique«, sagte er. »Mein Dienstherr möchte Sie bitten, ihm doch die Ehre zu erweisen und ihm Gesellschaft beim Abendessen zu leisten, jetzt, wo der Junge eingeschlafen ist.«
»Woher weiß er …«
»Er hat es gespürt, gnädiges Fräulein. In seinem Herzen.«
»Sir, es geziemt sich nicht für einen Mann, eine Frau einzuladen, der er nicht vorgestellt worden ist …«
Der Steward oder Butler, oder was er auch sein mochte, hielt ihr das kleine Tablett entgegen. Darauf lag eine Visitenkarte aus Büttenpapier mit Goldrand. Nur ein Name war aufgedruckt: Graf Hartmut von Bächl-Wölfling.
Was wusste dieser Mann über sie und den Jungen? Wie konnte er spüren, wann der Junge wach war oder schlief? Und warum hatte der kleine Johnny an seinen Wagen uriniert? Sie hatte Angst davor, wohin das führen mochte. Sie hatte die unbestimmte Ahnung von etwas - Unnatürlichem. Vielleicht sogar Übernatürlichem. Aber Speranza war nicht abergläubisch, und ihre Neugier war stärker als ihre Furcht.
Der Diener des Grafen wartete auf ihre Antwort.
»Ich komme sehr gerne«, erklärte sie ihm, »wenn Sie jemanden herüberschicken könnten, der auf das Kind aufpasst, während ich fort bin; und vielleicht könnte der Koch des Grafen ja eine Kleinigkeit zubereiten, die ich Johnny dann mitbringen kann. Der arme Junge ist völlig erschöpft, aber er hat noch nicht zu Abend gegessen, und ich fürchte, dass er mitten in der Nacht vor Hunger aufwachen könnte.«
Der Diener schwieg, versuchte vielleicht, ihre Antwort zu übersetzen; der Zug ruckelte, als er durch eine Kurve fuhr. »Jawohl, gnädiges Fräulein«, sagte er schließlich.
»Dann werde ich mich jetzt umziehen. Wenn ich schon von einem Grafen eingeladen werde, sollte ich wenigstens anständig gekleidet sein«, erklärte sie. Plötzlich fühlte sie sich unsicher.
Nachdem der Mann gegangen war, durchwühlte Speranza ihren Koffer, fand aber nur wenig Passendes; sie zog sich ein sauberes schwarzes Kleid an, frisierte ihr Haar und legte über das
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