Wolfsruf
schlichte Kostüm einen Umhang aus Kaninchenfell. Sie besaß auch ein wenig Schmuck und wählte ein silbernes Kollier mit Cabochon-Amethysten aus. Ein bisschen zu protzig vielleicht? Aber sonst besaß sie nichts, was sich eignen würde. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster. Vielleicht, dachte sie, könnte ich noch attraktiver sein. Im Fenster sehe ich aus wie eine Gouvernante, eine einfache Gouvernante - aber ich habe zu viele dunkle Träume für eine Gouvernante, zu viele dunkle, gewagte Gedanken.
Dann erschien eine Dienstmagd in Uniform, vielleicht vierzehn Jahre alt, knickste und sagte auf Deutsch: »Für den Knaben.« Speranza nahm an, dass sie auf den Jungen aufpassen sollte, und ging; der Diener erwartete sie bereits und führte sie durch den Gang in das Reich des Grafen von Bächl-Wölfling.
Sofort spürte sie die düstere, bedrückte Atmosphäre. Alle Vorhänge waren zugezogen, und das einzige Licht kam von einem goldenen Kandelaber mitten auf dem Tisch aus schwarzem italienischen Marmor. Der Diener bot ihr einen Platz in einem Fauteuil an, unförmig, staubig und mit dunklem Samt bezogen; ein zweiter Diener schenkte Wein in einen Kristallkelch ein. Abgesehen von der ständigen Bewegung des Zuges, fühlte sie sich in einen luxuriösen, wenn auch heruntergekommenen Salon in Mayfair versetzt.
Der Diener sagte, scheinbar in den leeren Raum hinein: »Euer Gnaden, das französische Fräulein, das Ihr eingeladen habt.« Er verbeugte sich.
»Willkommen«, sagte eine Stimme: glatt, tief, suggestiv, sogar ein bisschen erotisch. Zuerst sah sie nur Augen; die Augen glitzerten. Merkwürdigerweise erinnerten sie Speranza an Johnnys Augen, als er sich in sein anderes, geisteskrankes Selbst verwandelt hatte: Sie waren klar und gelb wie polierte Topase. Jetzt sah sie auch das Gesicht, in dem sie ruhten: ein schmales Gesicht. Ein Mann in mittleren Jahren, doch irgendwie auch jugendlich. Das Haar über der hohen Stirn war bis auf eine silberne Strähne über der linken Schläfe tiefschwarz. Auf seiner Oberlippe stand ein kaum sichtbarer Schnurrbart.
Er sagte: »Ou est-ce que vous préférez que nous parlons en français?« Seine Aussprache war makellos.
»Es macht keinen Unterschied«, antwortete Speranza, »in welcher Sprache wir uns unterhalten. Aber vielleicht können Sie mir etwas erklären … so vieles erklären … Wer sind Sie, und warum scheinen Sie so viel über mich und das Kind zu wissen?«
»Ich bin ein einfacher Pilger«, begann von Bächl-Wölfling. »Ich reise zum selben Schrein wie Sie, meine liebe Mademoiselle Martinique, aber vielleicht gestatten Sie mir die Freiheit, Sie mit Ihrem Vornamen anzusprechen. Speranza. Ihr Vorname bedeutet Hoffnung, und ohne Hoffnung ist unsere Sache zum Untergang verurteilt.«
»Ihre Sache?«
Der Graf näherte sich ihr und ließ sich in einem Ledersessel nieder. »Ah, ja. Wir sind alle auf der Reise zu Dr. Szymanowski, nicht wahr?«
»Ich soll ihm den Knaben überbringen.«
Er seufzte; er strahlte eine fast unüberwindliche Trauer aus, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Als wären seine Gefühle aus dem Staub in der abgestandenen Luft im Wagen geboren, als könnte sie seine Melancholie wittern. »Und danach?«, fragte er.
»Das weiß ich noch nicht, Sir. Vielleicht kehre ich zu meiner
Familie nach Aix-en-Provence zurück.« Ein Mädchen trug ein Fischgericht auf; der Graf stocherte gedankenverloren darin herum, aber Speranza war hungriger, als sie gedacht hatte. »Ihr Diener hat vorhin eine Bemerkung gemacht … Sie hätten gespürt, dass Johnny eingeschlafen sei … in Ihrem Herzen. Was hatte das zu bedeuten?«
»Wir sprechen eine geheime Sprache.«
»Aber Sie haben ihn nicht einmal gesehen.«
Der Graf rümpfte die Nase. »Ich habe ihn ganz bestimmt gerochen, Mademoiselle! Der Geruch hängt immer noch in der Luft … ah, Sie können es nicht riechen … manche von uns sind da … empfindsamer … als andere.«
»Wenn Sie damit auf Johnnys Missgeschick anspielen …«
»Das war bestimmt kein Missgeschick!«, widersprach der Graf lachend. »Aber er muss noch viel lernen. Ein Jüngerer kann das Revier eines Führers nicht einfach an sich reißen, indem er es mit Pisse markiert! Der Junge handelt im Augenblick noch rein instinktiv; aber bald wird sich zu seinem Instinkt auch Intelligenz gesellen. Ihm helfen zu können, seinen Geist zu formen, der noch so geschmeidig ist und doch schon all das in sich trägt, was unsere Rasse von …«
»Ich habe keine
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