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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Schlitze waren … wie die Augen eines wilden Tieres! Ängstlich eilte sie ihm nach, aber er knurrte nur und rannte bis zum Ende des Zuges, sprang auf die Schienen, kletterte auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig wieder hoch. Sie rief ihn und rannte dann ebenfalls los.
    Ich muss ihm den Weg abschneiden, dachte sie. Sie kletterte in den Zug. Eine alte Bäuerin mit zwei Hennen im Korb schaute ihr fassungslos zu. Sie versuchte, die Tür auf der anderen Seite aufzudrücken, aber die war verschlossen.
    Sie presste ihr Gesicht ans Fenster, rief ihn. Er urinierte wieder, erst auf die Schienen, dann an die Zugtüre, und brüllte aus Leibeskräften: »Das ist mein Revier, ich will nicht in dein Rudel, ich bin ich, ich bin ich, lass mich in Ruhe, Ruhe, Ruhe!«
    »Helfen Sie mir!«, flehte Speranza. »Bitte, auch wenn ich Ihre Sprache nicht spreche … au secours, j’ai perdu mon enfant …«
    Die Passagiere im Wagen beobachteten den Vorfall neugierig.
Ein stämmiger Mann fragte sie auf Deutsch: »Ist das Ihr Kind dort auf dem Gleis?«
    Sie nickte, ohne ihn zu verstehen. Der Mann rief etwas, und ein Bahnbeamter kam herbeigelaufen, um die Tür aufzuschließen. Speranza und ein paar der Passagiere sprangen auf die Schienen herab.
    »Ich laufe nie in deinem Rudel, nie nie nie nie nie!«, schrie Johnny und besprenkelte sie mit seinem Urin.
    »Was sagt er denn?«, fragte der stämmige Mann auf Deutsch und packte den Jungen. Johnny beruhigte sich langsam.
    »Vielen Dank.« Speranza nahm ihn dem Mann ab. Im gleichen Moment rollte sich Johnny wie ein Fötus zusammen und lutschte am Daumen. Seine Kleider, sein Gesicht und seine Arme waren befleckt und stanken; es war ein seltsamer Geruch, als wäre sein Urin irgendwie nicht menschlich.
     
    Im Abteil füllte sie einen Krug mit Wasser, feuchtete ein Handtuch an und begann, sein Gesicht abzuwischen. Er bewegte sich nicht. Eine Pfeife gellte draußen, dann rollte der Zug aus dem Bahnhof. Der Gestank war stechend, betäubend. Aber Speranza hatte den kleinen Michael jeden Tag bis zu seinem Tod gesäubert und gewaschen; sie vertrug einiges. Der Junge schien tief zu schlafen. Sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Sie zog ihm den Mantel aus und deckte ihn damit zu. Ganz sachte öffnete sie seine vorderen und hinteren Kragenknöpfe und zog ihm das Hemd über den Kopf. Dann löste sie seine Hosenträger, damit sie ihm auch die Hose ausziehen konnte. Das Hemd riss, als sie es unter seinem Kopf hervorzog. Die Handrücken des Kindes waren mit feinem, glänzendem Flaum bedeckt. Auch sein Rücken war ungewöhnlich behaart und glänzte wie ein Seehundfell. Der Junge war mit Narben und Striemen übersät; sie erkannte, dass er oft, wahrscheinlich regelmäßig geschlagen worden war, denn viele der Narben waren bereits verheilt. Sie wrang das Tuch aus, weichte es wieder ein und wusch ihn, so
gut es ging. Obwohl sie versuchte, nicht hinzusehen, bemerkte sie seinen kleinen Penis, der erigiert über einem kleinen Büschel silberweißen Haares aufragte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der kleine Michael dort unten Haare gehabt hatte. Der Knabe hatte neben seinen offensichtlichen emotionalen Anomalien definitiv auch ein paar physische.
    Die Sonne begann hinter den weißen Bergen unterzugehen. Es gelang ihr, ihm ein Nachthemd überzuziehen, das so sehr gestärkt war, dass es sich hart anfühlte. Offenbar war es nie benützt worden, ebenso wie all die anderen Kleider in dem Koffer, den Quaids Leute in den Zug geladen hatten. Das kratzige Gewebe musste ihn aufgeweckt haben. Er schlug die Augen auf und bat: »Erzähl mir ein Märchen, Speranza. Bitte erzähl mir ein Märchen. Dann kann ich schlafen, und Jonas lässt mich in Ruhe. Er kommt nie, wenn ich schlafe.«
    Sie hätte ihn gerne weiter über Jonas ausgefragt, aber sie fürchtete, dass sie dadurch einen neuen Anfall auslösen könnte; deshalb sagte sie nur, nachdem sie sich in dem gepolsterten Sitz zurückgelehnt und er seinen Kopf auf die schwarze Seide ihres Rocks gebettet hatte: »Welches Märchen möchtest du denn hören? Vielleicht eines über einen Prinzen in einem Schloss? Mit einer wunderschönen Prinzessin? Vielleicht eines mit einem Drachen? Oder macht dir das zu viel Angst?«
    »Ich möchte Rotkäppchen hören«, erklärte er schüchtern. »Aber Rotkäppchen soll ein Junge sein.«
    Sie musste sich Mühe geben, um sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, seine Bitte sei irgendwie ungehörig,

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