Wolfsruf
des toten Mädchens zu. Scott war froh darüber, denn der Captain hatte sie aus nächster Nähe erschossen. Noch mehr Federn. Eine schmächtige Hand baumelte von oben herab.
»Lebwohl«, schien die Wolfsfrau zu ihm zu sagen und verschwand im Nebel und Rauch. Musik lag in der Luft: die schrille Melodie der Pfeifen und das große Stakkato der Trommeln, um die Schreie zu übertönen.
Scott antwortete nicht. Er wandte sich wieder dem Captain zu. Er sah ihn toben. Er bemerkte, dass die Hand auf dem Gerüst gar nicht schlaff und leblos war - sie glitt nach unten, tastete in der Luft. »Vorsicht!«, schrie er. Aber es war zu spät. Die Hand hatte Sandersons Haar gefunden und riss es nach oben. Eine zweite Hand schoss herab und jagte ein Messer in den Skalp.
Scott feuerte auf das Gerüst. Immer und immer wieder. Das Toben des Captains verstummte augenblicklich. Blut sprudelte ihm übers Gesicht. Auf dem Gerüst flogen Federn und Knochen und Büffelhäute herum - der blutige Skalp fiel aus der Hand in den Schnee. Sanderson stürzte sich darauf. Er schien zu schockiert zu sein, um Schmerz zu spüren. Eine Gestalt rollte vom Gerüst. Der Aufprall war nicht zu hören; der weiche Schnee verschluckte jedes Geräusch.
Einen langen Augenblick torkelte Sanderson mit dem Haarkranz in der Hand herum, verklebt von gerinnendem Blut und schneebestäubt. Er schrie immer noch nicht, schien immer noch keinen Schmerz zu spüren. Schließlich krächzte er heiser: »Sehen Sie, Harper? Es ist ganz leicht, ein Kind zu töten, ganz leicht, leicht.« Und fiel ohnmächtig neben zwei tote Indianer - und Scott schrie um Hilfe.
Ein Kind zu töten - wollte er ihn verhöhnen? Als immer mehr Soldaten aus dem brennenden Lager herbeieilten, als sie den Captain auf eine Bahre legten, nahm Scott zum ersten Mal wahr, wen er getötet hatte.
Er war höchstens zwölf Jahre alt. Er trug nur einen Lendenschurz. Scott hatte ihm nur Fleischwunden zugefügt. Der Junge war vorher bereits fast verblutet, langsam und qualvoll, an einem tiefen Schnitt in seinem Bauch. Vielleicht von einem Kavallerieschwert, dachte Scott. Sein Mund war wie zum Schrei aufgerissen, aber er wirkte eher überrascht als ängstlich. Sein Gesicht war mit Farbe beschmiert; selbst Scott konnte sehen, dass sie ungeschickt aufgetragen worden war; ungleichmäßige blaue Streifen auf beiden Wangen verliehen seinen Zügen etwas Hartes, Asymmetrisches. Gedärme hingen aus der Wunde und lagen im Schnee. Eine Faust war fest um ein Haarbüschel geschlossen.
»Er durfte nicht mit auf die große Jagd, weil er zu jung war.« Scott schaute auf und sah Zeke neben sich stehen. »Also bleibt er hier bei den Frauen und Kindern und träumt davon, dass er wie seine Brüder und Onkel in den Krieg zieht. Dann wird er aufgeschlitzt. Er weiß, dass er sterben muss. Nicht gleich, aber er sieht, dass er sein Blut und seine Eingeweide verliert, bis nur noch eine Hülle von ihm übrig bleibt. Er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Aber er will wie ein Mann sterben. Ein Mann muss gut aussehen in der Geisterwelt. Irgendwie bemalt er sich das Gesicht. Versteckt sich unter den Toten … er gehört praktisch schon zu ihnen. Und hofft, dass er einen Washichun mitnehmen kann.«
»Du sprichst, als hättest du ihn gekannt, als wärst du dabei gewesen.«
»Scheiße, ich hab jede Menge gekannt, die genauso waren wie er. Na, einer von uns Bleichgesichtern hat ihn jedenfalls von seiner letzten Ruhestätte runtergeholt.«
»Ich bin nicht stolz darauf«, sagte Scott. »Kein bisschen.«
»Du warst das?«, fragte Zeke. »Jetzt bist du ein richtiger Soldat, mein Junge. Du hast Blut an den Händen, Blut im Sinn.«
»Dass du so reden kannst! Du hast bei ihnen gelebt. Du hast
sogar eine Squaw geheiratet. Wie du über den Jungen gesprochen hast, das war fast … wie ein Gedicht! Scheiße, Zeke …«
»Ich bin noch nicht so alt. Ich kann immer noch zwischen einem Gedicht und der Wirklichkeit unterscheiden.«
»Ich fühle mich … ich fühle mich überhaupt nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Außerdem will mich der Captain vors Kriegsgericht stellen, weil …«
»Vors Kriegsgericht? Du hast ihm das Leben gerettet! Dafür bekommst du einen Orden, mein Junge, dafür wirst du befördert.«
»Wir wählen nicht, was wir sind.«
»Was sagst du?«
Scott wurde bewusst, dass dies die Worte waren, die er vorhin zu hören geglaubt hatte, die Worte der Wolfsmenschen. Und dann kam es ihm ohne Nachdenken über die
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