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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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trieb Scott die Tränen in die Augen. Alles verschwamm. Die Perspektiven verschoben sich. Die Tipis waren wie brennende Pyramiden. Die Pferde brüllten, als sie von den Soldaten niedergemetzelt wurden. Die Wildheit in den Augen des Captains - die gleiche gierige Wildheit wie in den Augen der Goldgräber, Scott folgte ihm. Es gab nichts zu kämpfen. Natürlich nicht. Nur alte Männer und Frauen und kleine Kinder.
    Die traten aus dem Qualm heraus. Er kroch hinter ihnen über den schmelzenden Schnee, über die Leichen. Der Captain winkte ihm mit seiner Pistole. Er war besessen. Scott konnte kaum mit ihm Schritt halten. Vor ihnen standen Bäume. Zwischen
ihnen hatten die Sioux ihre Sterbegerüste aufgebaut. Er sah die Toten in ihrem Schmuck dort ruhen. Menschliche Schädel und Büffelschädel blickten ihn unter dem Schnee heraus an. »Bestimmt verbergen sich ein paar von ihnen unter den Leichen«, grummelte der Captain vor sich hin. »Sie denken, wir wären zu feige, um ihre heiligen Stätten anzugreifen … was für Einfaltspinsel diese Wilden doch sind! Zu glauben, dass ihre heidnischen Riten sie vor unserem gerechten Zorn bewahren könnten …«
    Er verschwand zwischen den Bäumen. Bleich und wie gebannt beobachtete Scott, wie er eine Frau an den Haaren herauszog. Er schleuderte sie mit dem Gesicht voran in den Schnee, kniete sich auf sie und drückte ihr seine Pistole in den Nacken. »Sehen Sie!«, brüllte Sanderson.
    Er prügelte die Frau und den Schnee. Die Schreie der Sterbenden im Dorf wurden vom Rauch und vom Wind erstickt. Sie schienen ganz woanders zu sein, der wahnsinnige Captain und die Frau und Scott. Warum schrie sie nicht wenigstens? Das war das Schlimmste: wie sie starben, so ganz anders, als sein Vater den letzten Krieg beschrieben hatte - die Angst, die Schreie, das Flehen, die Verzweiflung. »Sehen Sie sich das da an«, sagte Sanderson und machte eine Geste in Richtung der Sterbegerüste. Gebeine und Schnee. »Und sehen Sie sich diese Squaw an. Ich habe nichts gegen sie. Aber sie kann den Lauf der Geschichte nicht aufhalten. Töten Sie sie. Das ist ein Befehl!«
    Scott zögerte. Hinter dem Captain, im Dickicht, genau hinter den letzten Gerüsten - war das wieder dieser Wolf? Nur Augen. Ich sehe schon Gespenster, sagte er sich.
    »Töten Sie die Frau!«
    »Es tut mir leid, Captain. Ich kann nicht.« Er konnte es selbst nicht fassen, dass er das gesagt hatte. Scott hatte sich noch nie einem Befehl widersetzt. Er war in die Armee gegangen, weil sein Vater gesagt hatte, dass sie jetzt alle zusammen eine Nation
bildeten und dass es an der Zeit wäre, zu vergessen. Scott wusste, was Autorität und was Ungehorsam bedeutete.
    »Töten Sie die Frau, oder ich lasse Sie vors Kriegsgericht stellen!«
    »Nein.«
    Diese Augen - die im Schnee brannten - dieselben Augen. Der Wind drehte und trieb den Qualm zu ihnen herüber, biss in seinen Augen und seiner Nase. Der Wolf und die alte Frau waren in Rauchschwaden gehüllt. Beide waren ausgemergelt, dürr. Wohin wollten sie? Folgten sie ihm? Ihre Augen ließen ihn nicht los. Sie durchdrangen das ätzende Grau. Er schien sein eigenes Schicksal in der kalten Glut dieser Augen zu sehen.
    Er war so fasziniert, dass er kaum die Flüche des Captains hörte, kaum den Schuss; dass er kaum sah, wie sich der Schnee zu seinen Füßen mit dem Blut und dem Gehirn der jungen Frau blutrot färbte. Was dann kam, geschah wie in einem Traum. Der Captain trat dem Leichnam in die Seite, wirbelte blutrote Schneeflocken auf. Jetzt drehte er sich in seiner Raserei wieder zu den Gerüsten um, rüttelte daran, versuchte, sie niederzureißen. Seine Hose war blutdurchtränkt. Knochen regneten auf ihn nieder, Knochen und gebleichte Federn. Die ganze Zeit über blickten Scott und die Wolfsfrau und der Frau-Wolf einander durch den Rauch in die Augen - er hatte beinahe das Gefühl, mit ihnen sprechen zu können, als läge ihm ihre Sprache auf der Zunge.
    Die Wolfsfrau heulte. Ihr Ruf durchdrang den fernen Chor der Sterbenden. Was wollte sie ihm sagen? Er bildete sich ein, sie zu verstehen; es war ihm fast ein Trost, obwohl der Schrei herzzerreißend geklungen hatte. »Vergiss nicht in deiner Wut, dass wir nicht wählen, was wir sind.« Diese Botschaft glaubte er zu hören.
    »Ich will nicht … Ich meine, ich kann nicht …« Ich werde verrückt, dachte er. Ich habe Visionen, ich höre Stimmen.
    Der Captain rüttelte am nächsten Gestell. Ein Schild aus
Büffelfell segelte herab. Es deckte den Kopf

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