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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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den Wolfsmenschen im Himmel begraben sein. Ich wollte dir nur als Stärkung dienen, damit ich in dir sein kann, wenn du den heiligen Ort erreichst.«
    Die Antwort drang durch das Heulen des Windes. »Das Fleisch der Washichun wird uns neue Kraft geben, meine Schwester.«
    »Aber warum sind die weißen Männer ins Land der Lakota eingedrungen?«
    »Schwester, das weiß ich nicht.«
    Flötenmusik wurde vom Wind herbeigetragen. Aber es waren keine Siyõtanka, Knochenflöten, die Botschaften der Liebe überbrachten; diese Flöten klangen quietschend und metallisch; sie waren hart wie die Sprache der Washichun. Woher kam das Geräusch?
    »Sieh«, sagte die alte Frau. Die Wölfin erstarrte, spürte das Unbehagen ihrer Schwester; die Frau wünschte, ihr Geruchssinn wäre besser ausgeprägt. Aber sie würde niemals wieder die Kraft zur Verwandlung haben; das Alter hatte sie in die Gestalt einer Greisin gezwungen, mit einem Gesicht, das so voller Falten und Kerben war wie das Gebirge. Aber ihre schwachen Augen erblickten im Spalt zwischen zwei schiefen Felsen Flammen und Rauchsäulen. Die Wölfin bäumte sich auf und heulte; die alte Frau wusste, dass sie den Tod witterte. Es muss Krieg sein, dachte sie. Aber was war das für ein Ratatat, das von den Gipfeln widerhallte? Sie kannte das Geräusch von Gewehren, aber dieses Gewehr ratterte mit unmenschlicher Gleichmäßigkeit.
Beunruhigt schnüffelte ihre Schwester und hob eine Pfote - der Todesgestank musste ihr fast den Atem rauben, sogar die alte Frau nahm ihn jetzt wahr, wie ranziges, verbranntes Büffelfett.
    Sie fühlte sich von all dem auf seltsame Weise losgelöst. Sie wusste, dass sie die Grabstätte niemals erreichen würde. Der große Kreis des Mondes würde ohne sie enden und beginnen.
    »Sollen wir ins Dorf hinuntergehen?«, fragte sie ihre Schwester, die Wölfin. Aber sie stiegen bereits den Hügel hinab. Ich bin dem Tode so nahe, dachte sie, deshalb ziehen mich die Sterbenden an. Scott und Zeke gaben ihren Pferden die Sporen und jagten zwischen den brennenden Tipis hindurch. Schreiend rannten die Frauen durch das Lager. Eine Frau wälzte sich mit brennenden Kleidern im Schnee. Durch den dichten Qualm konnte Scott erkennen, wie drei Soldaten eine Frau vergewaltigten, während ein vierter ihr sein Bajonett ins Gesicht rammte. Ihr Körper war vollkommen schlaff; vielleicht war sie schon tot. Über den Todesschreien spielten die Pfeifen und Trommeln ein fröhliches Lied.
    Scott stieg ab. Eine Frau kam auf ihn zugerannt. Sie war nackt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Kraftlos riss sie einen Tomahawk hoch. Er starrte sie unsicher an. Ein Schuss bellte. Die Frau sank im Schnee zusammen. »Haben Sie etwa Skrupel, Harper?«, knarrte eine Stimme hinter ihnen. Es war Captain Sanderson. »Jetzt können Sie endlich für Ihr Vaterland kämpfen!«
    »Frauen zu vergewaltigen und Kinder umzubringen, ist nicht das, was ich unter Kampf verstehe, Sir«, widersprach Scott voller Verachtung.
    Der Captain stakste auf sie zu, hielt nur kurz inne, um einem greinenden Baby ins Gesicht zu treten. »Keine Gnade, Lieutenant«, sagte er. »Wenn Sie denen den kleinen Finger reichen, nehmen sie die ganze Hand.« Das Baby, das noch auf seine Trage geschnallt war, prallte auf einen Steinhaufen im
Schnee. Es gab keinen Laut mehr von sich. Vielleicht war es schon tot. »Sie halten mich für grausam?«, grölte der Captain. »Vergessen Sie niemals das Minnesota-Massaker, Harper! Sie waren damals zwar noch ein Kind, aber vergessen Sie es trotzdem nicht!«
    Zeke flüsterte, und Scott hörte die Verbitterung in seiner Stimme: »Du kannst nichts dagegen tun, Junge. Es ist eine verdammte Schande, aber du kannst nichts dagegen tun.«
    »Ich verstehe nicht, wie du so gefühllos sein kannst, Zeke Sullivan. Du hast bei den Indianern gelebt!«
    »Ich bin nicht gefühllos. Nur alt und müde. Ich sehe die Zukunft, Kleiner, und ich sehe keine Indianer. Nur Eisenbahnschienen, Meile über Meile Eisenbahnschienen. Und Goldgräber und Bauern und Kirchen und Puffs.«
    Der Captain war bei ihnen angelangt. »Planen Sie beide etwa eine Meuterei?«, herrschte er sie an.
    »Sir, ich protestiere …«
    »Kommen Sie mit, Lieutenant! Jetzt machen wir einen Mann aus Ihnen.« Der Captain stolzierte wieder davon. Scott folgte ihm in den dichten Qualm. Es war, als spaziere er in einen Albtraum. Dies konnte nicht wirklich geschehen. Er nahm den zackigen Gang des Captains nur halb wahr. Zeke blieb zurück. Der ätzende Rauch

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