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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Lippen: »Shungmanitu hemakiye.«
    »Wo, in Dreiteufelsnamen, hast du das her?« Zeke starrte ihn verunsichert an.
    »Es ist mir nur so herausgerutscht. Ich weiß nicht einmal, was es bedeutet.« Dann, entsetzt: »Zeke, was bedeutet es?«
    »Ist doch egal«, sagte Zeke dumpf. Er wandte sich um, ohne noch einen Blick auf die Leichen zu werfen. Scott beobachtete, wie der Nebel ihn verschluckte. Die Eiseskälte konkurrierte mit der Hitze der brennenden Tipis. Ich bin ein Held, sagte er zu sich selbst, aber die Worte bedeuteten ihm nichts, überhaupt nichts. Später würde er sich nur noch an diesen Augenblick erinnern, weil Zeke ihm von da an nicht mehr vertraut hatte.

6
    Bayern
    Ein Tag vor Vollmond
     
    Speranza hatte den Salonwagen des Grafen so bald wie möglich verlassen. Das Kind war wach und mit dem Abendessen beschäftigt, das man ihm gebracht hatte: ein bisschen Pastete, einen Teller Suppe, eine Scheibe Schwarzbrot, einen Kelch mit Glühwein. Das Mädchen sah sie zurückkommen, so kurz, nachdem sie zu dem Bächl-Wölfling aufgebrochen war, knickste und zog sich mit einem Schmunzeln zurück - oder bildete sich Speranza nur das Schlimmste ein?
    »Du stinkst nach ihm«, sagte der Junge. Es war der andere. Der Unflätige. »Du riechst nach ihm, er stinkt wie ein Vieh, er hat bestimmt über deine Fotze gewichst, oder hast du ihn gleich reingelassen?« Speranza versuchte gar nicht erst, darauf zu antworten, sondern wartete ab, bis der Anfall vorbei war. Endlich kam Johnny Kindred zurück, um zu sagen: »Ich bin so froh, dass du wieder da bist; bleib immer bei mir.« Dann schlief er in ihren Armen ein.
    Diese Nacht schlief sie schlecht. Sie blies die Lampe aus, bettete den Jungen auf den Platz ihr gegenüber und starrte auf die vorbeiziehende Schneelandschaft. Dunkle Fichten, vom Mond versilbert, so weit das Auge reichte. Kaltes, scheckiges Licht drang ins Abteil. Sie versuchte, nicht an den Grafen von Bächl-Wölfling zu denken. Aber sie träumte, dass er sie durch den dunklen Wald verfolgte, dass der Geruch nach Erde und Wolfsurin in ihrer Nase brannte, dass ein scharfer, eiskalter Wind ging. Im Traum glaubte sie, sich daran zu erinnern, dass sie die deutschen Wälder hinter sich gelassen hatten und sich nun in einem märchenhaften Wald voll leviathanischer Bäume und merkwürdiger Tiere befanden, einem Wald wie aus einer anderen Welt.

    Am Morgen erschien der gleiche Diener mit einer Einladung zum Frühstück. »Bitte bringen Sie das Kind mit«, sagte der Mann. Sie schaute Johnny an. Er schien reuig zu sein: Er leistete keinen Widerstand, als sie ihm die eleganten Kleider anzog, die sie im Koffer entdeckten. Sie selbst kleidete sich wieder in dunkle Farben; wieder legte sie die silberne Kette an, obwohl sie fürchtete, dass er sie für arm halten würde, weil sie ständig den gleichen Schmuck trug.
    Die Vorhänge im Wagen des Grafen waren immer noch zugezogen. Sie bemerkte unwillkürlich den Geruch; sie erkannte ihn aus ihrem Traum wieder. Der Junge begann zu knurren. »Ruhig, Johnny, ruhig«, murmelte sie leise. Zwischen den Vorhängen drang ein Spalt Tageslicht in den Raum; Staub schwebte in den Sonnenstrahlen. Sie blickte auf den Rücken des Grafen; er saß an einem Schreibtisch, schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Sie nahm Einzelheiten in sich auf, die ihr gestern entgangen waren; der Wagen wurde durch einen schweren lilafarbenen Vorhang mit dem Wolfswappen unterteilt; vielleicht lag dahinter die Schlafkabine. Plötzlich befürchtete sie, dass der Junge auf die wertvollen Möbel urinieren könnte. Aber sein Knurren schien nicht ernst gemeint zu sein; bald wurde er abgelenkt, unruhig und widmete seine Aufmerksamkeit einem Stäubchen, das im Sonnenlicht tanzte.
    Der Graf bewegte sich, zuckte vielleicht mit den Achseln; plötzlich wurde der Vorhang zurückgezogen, und Musik erklang von nebenan, leises Klavierspiel. Nach ein paar Takten fiel ein heller, weicher Tenor mit einer klagenden Melodie in Moll ein. Jetzt strömte Sonnenlicht in den Wagen.
    Der Junge wurde augenblicklich von der Musik in Bann gezogen. Endlich, zum ersten Mal, lächelte er.
    »Schubert«, erkannte Speranza, denn der Liederzyklus Winterreise war im Haushalt des Slatterthwaites nicht unbekannt gewesen; obwohl Seine Lordschaft den Text in einer geschraubten englischen Übersetzung seines Cousins gesungen hatte und der
kleine Michael zur Begleitung gnadenlos das Familienpiano traktierte. Sie hatte nicht geahnt, dass diese Lieder so schön sein

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