Wolfsruf
zweifeln, nicht wahr? Sie glauben diese extravaganten Behauptungen wohl kaum?«
»Nur, Graf, dass Sie über eine große Vorstellungskraft verfügen.« Sie fühlte sich unwohl, denn Mann wie Kind fixierten sie aufmerksam. Deshalb fuhr sie fort: »Ich bitte Sie, Sir! Wir sitzen hier im schönsten Sonnenschein und tun nichts Übernatürlicheres,
als Fasanenpastete zu essen; wie können Sie erwarten, dass ich Ihre Gespenstergeschichten glaube?«
»Gespenstergeschichten! Halten Sie sie dafür?«
»Sind sie das nicht?«
»Sie missverstehen mich, Speranza. Ich glaube nicht an Gespenster. Auch nicht an Geister, Dämonen oder sonstige Kinder der Verdammnis! Wie könnte ich es mir gestatten, an solche Dinge zu glauben? Tiefste Verzweiflung würde mich überfallen, denn im Herrschaftsbereich des Christentums, in dem wir uns befinden, dürfen Wesen wie ich kein Heil erhoffen, keine Erlösung aus dem Fegefeuer. Wir sind von jeher verdammt, ohne jede Hoffnung, verdammt, bevor wir verurteilt wurden! Quindi, Speranza, quindi bramo la speranza! «
Er sprach in ihrer Muttersprache zu ihr, der Sprache der Sanftheit und Wärme; ihr war, als hätte er damit ihr letztes, innerstes Versteck bloßgelegt. Sie ließ sich nicht beirren, sondern antwortete auf Englisch, für sie die kälteste aller Sprachen: »Und warum, Graf von Bächl-Wölfling, sehnen Sie sich so sehr nach Hoffnung?«
»Aber ich vergesse mich!« Der leidenschaftliche Ausbruch des Grafen war nur ein kurzes Zwischenspiel gewesen; jetzt war er wieder vollkommen korrekt. »Vergeben Sie mir, dass ich Sie mit meinen religiösen Qualen belästigt habe, Mademoiselle; ich hoffe, meine Worte haben Sie nicht zu sehr verstört?«
»Im Gegenteil, es war mein Fehler«, erwiderte Speranza automatisch, auch wenn sie nichts dergleichen empfand. »Vielleicht sollte ich lieber gehen?«
Die Sonne hing tief über dem Schnee.
Johnny saß auf dem Polster, die Nase an die Scheibe gepresst.
»Was meinst du?«, fragte er plötzlich. »Sollen wir ihm trauen? Sollen wir mit ihm in den kalten, kalten Wald ziehen?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du wirst heute Nacht zu ihm gehen, nicht wahr? Er wird dich einladen. Und wenn nicht, wirst du eine Ausrede finden. Weil du vor Neugier fast stirbst. Du willst wissen, ob es stimmt. Und du willst ihn ficken.«
»Johnny, ich muss wirklich darauf bestehen …« Aber sie wusste, dass jedes seiner Worte wahr war. Er durchschaute sie vollkommen, dieser Verrückte.
»Meine Redeweise. Ich kann nichts dagegen unternehmen, ich bin von Dämonen besessen, weißt du? Das sagen alle.«
»Johnny, es gibt keine Dämonen. Das sagt sogar der Graf.«
»Ich will nicht so sein.«
»Das musst du auch nicht, Johnny, weil ich dir helfen werde. Ich werde dich irgendwie von dieser Krankheit befreien.«
»Wirst du mich auch lieben, Speranza?«
»Natürlich werde ich das.«
»Dann musst du mich auch ficken, oder nicht?« Die Worte beleidigten sie nicht mehr; sie wusste, dass sie Teil seiner Krankheit waren. Irgendwie hatte er all diese Dinge auf schreckliche Weise durcheinandergebracht. Wie konnte sie ihm das zum Vorwurf machen? Selbst sie war verwirrt, und sie war eine gesunde Frau, oder etwa nicht? Sie versuchte, ihn vom Fenster wegzulocken, um ihn zu trösten; erst leistete er Widerstand, dann aber warf er sich mit einem Hunger in ihre Arme, der wie Zorn war, und es beängstigte sie, dass in einem so zerbrechlichen Körper so viel Schmerz stecken konnte. Und während sie ihn im Arm hielt, hörte sie ihn, verzweifelt und besorgt um ihre und um seine Zukunft, weinen: »Wenn du heute Nacht zu ihm gehst, dann musst du deine silberne Kette tragen, nimm sie nicht ab, egal, was er sagt, nimm sie auf keinen, keinen, keinen Fall ab!«
7
Deadwood, Dakota-Territorium
Vollmond
Er schlich wie eine Katze in den Saloon, hielt sogar die Tür fest, damit sie so leise wie möglich zurückschwang. Erst bemerkte ihn niemand. Wahrscheinlich war ihre Aufmerksamkeit durch das Stimmengewirr und das Geklimper des verstimmten Klaviers beeinträchtigt. Neben dem Klavier sang eine Opernsängerin ein deutsches Lied in dem aussichtslosen Versuch, etwas Kultur in die Wildnis zu bringen. Es war dieselbe Frau, deren Bild das Plakat draußen an der Wand zierte: »Direkt vom Hofe König Ludwigs von Bayern die fantastische Vokalartistin Amelia Nachtigall!« Niemand schenkte ihr Beachtung, obwohl sie ebenso konzentriert wie falsch drauflosträllerte. Es war, wie er bemerkte, ein
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