Wolfsruf
konnten.
Der Graf sagte: »›Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.‹ Wie wahr. Sehen Sie, der Junge versteht die Musik instinktiv. Er ist mir nicht mehr böse.«
Er klatschte in die Hände. Die Musik brach ab, das Lächeln auf dem Gesicht des Jungen erlosch. »Lassen Sie uns frühstücken.« Er erhob sich und bedeutete ihnen, ihm zu folgen; als er durch die zurückgezogenen Vorhänge schritt, nickte er, und die Musik setzte mitten im Stück wieder ein. Sie nahm Johnny bei der Hand und führte ihn. Als sie an dem Schreibtisch vorbeikamen, sah sie, dass er einen englischen Brief geschrieben hatte. Sie hatte die Anrede bereits überflogen - »Mein lieber Vanderbilt« -, als sie merkte, wie unhöflich sie sich benahm. Natürlich wäre ihr normalerweise nie in den Sinn gekommen, fremde Briefe zu lesen; das zeigte nur, wie viel Macht der Graf über sie hatte. Sie nahm sich vor, sich noch prüder, noch ernster zu geben. Sie würde nichts tun, was irgendwie anstößig sein könnte - überhaupt nichts!
Das Frühstück war schmackhaft und reichhaltig. Der Kaffee wurde in blau-weißen Delfter Tassen serviert. Sie bewunderte das Service. Sie bewunderte auch das Besteck, dessen elfenbeinerne Griffe in Form von springenden Wölfen geschnitzt waren, denen man winzig kleine Topas-Augen eingesetzt hatte. Während sie aßen, sagte der Graf kaum etwas. Er starrte den Jungen an. Der Junge starrte zurück. Die beiden verständigten sich wortlos. Sie merkte, dass sie umso mehr plapperte und mit ihrem Geschwätz die unangenehme Stille zu füllen suchte. Sie verstummte. Die Musik erfüllte den Raum. Schuberts Liederzyklus kündete von Schönheit und Einsamkeit. Wie alles hier. Die Fenster waren einen Spaltbreit geöffnet, und der moschusartige, tierische Geruch verzog sich langsam. Der Zug kam aus dem Wald heraus, fuhr an zugefrorenen Seen
und verschlafenen Dörfern vorbei. In der Ferne waren Berge zu sehen. In ein paar Stunden würden sie Österreich-Ungarn erreichen, jenes Imperium verschiedenster Völker und Sprachen. Sie nippte an ihrem Kaffee, der mit Muskat verfeinert und mit einer weißen Sahnehaube verziert war, und verfolgte das stille Gespräch zwischen dem gestörten Jungen und dem weltgewandten Aristokraten.
Schließlich sagte der Graf: »Sie scheinen sehr großen Eindruck auf den Jungen gemacht zu haben, Speranza. Er liebt Sie sehr, müssen Sie wissen. Sie scheinen die Kinder zu verzaubern … wie auch die Erwachsenen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
Er lächelte entwaffnend. Sie errötete wie ein Schulmädchen, obwohl sie sich dazu zwang, ihre Lippen verschlossen zu halten und keine Regung zu zeigen. »Sie belieben zu schmeicheln, Graf«, erwiderte sie.
»Nennen Sie mich doch Hartmut«, bot er ihr an.
»Das würde ich nie wagen«, lehnte Speranza ab. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie beruhigte ihre Hand, indem sie eine Scheibe Toast mit Butter bestrich, dann eine Scheibe Pastete darauflegte, sie zurechtschob und mit dem Pastetenmesser scharfe Furchen zog. Bevor sie fertig war, hatte er seine Hand quer über den Tisch ausgestreckt und ihre gepackt. Seine Hand war haarig und glitschig vor Schweiß. Ihr Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem Ofen. Schnell entzog sie sich seinem Griff. Der Graf lächelte mit seinen Lippen, mit seinem Gesicht; doch aus seinen Augen sprach unberührbare Trauer.
»Was denken Sie? Dass Sie an diese Trauer rühren sollten?« Wie seltsam, dachte sie, dass er ihre Gedanken so genau lesen konnte. »Ah, Sie wissen noch nicht, welch unmögliche Aufgabe Sie sich damit gesetzt haben. Sie sind jung, furchtbar jung. Können Sie das Tier in Ihrem Inneren nicht spüren, auch wenn Sie ganz und gar Mensch sind?«
»Sir, Sie sind ungehörig.«
»Weil Sie es wünschen.«
Hier drohte Gefahr, obwohl das ganze Abteil in strahlendem Licht lag. Speranza entschied, dass sie genauso gut direkt sein konnte. »Warum, Graf von Bächl-Wölfling, haben Sie uns hergebracht? Warum deuten Sie irgendwelche Geheimnisse an? Sie strahlen etwas aus, tun fast so, als wären Sie ein übernatürliches Wesen. Ich bin überzeugt, dass das nur auf Ihre vornehme Abstammung zurückzuführen ist, wenn Sie gestatten …«
»Alles, was Sie sich überlegt haben, Mademoiselle, ist wahr.«
Aber sie hatte sich überhaupt nichts überlegt … der Junge knurrte wieder. Er spielte mit seinem Essen. Er sprang mit allen vieren auf den Tisch. Der Graf drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht schien sich innerhalb
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