Wolfsruf
einer Sekunde zu transformieren. Er fauchte einmal. Der Junge sank beschämt zurück auf seinen Platz. Das Gesicht des Grafen wurde wieder normal. Speranza studierte ihn, hoffte, eine Erklärung für diese plötzliche Metamorphose zu finden, konnte aber nichts entdecken.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie ihn.
»Wir verstehen einander.«
»Um zum Thema zurückzukehren … was sollen diese Rätselspiele, Graf? Ich bin eine moderne Frau und mag keine Geheimnisse.«
»Ich bin ein Werwolf.«
Der Zug ratterte zu der Schubert-Melodie. Ihr Verstand sagte ihr, dass der Graf sich wieder einer seiner Fantasien hingab, zu denen sie keinen Zugang hatte. Noch einmal erwog sie die Möglichkeit, dass er genauso verrückt war wie Johnny. Aber ein Teil ihrer selbst schenkte ihm bereits Glauben. Sie konnte nicht leugnen, dass seine Äußerung verlockend klang. Obwohl sie es sich kaum einzugestehen wagte, fand sie die Vorstellung sogar faszinierend.
»Noch etwas Kaffee, gnädiges Fräulein?«, fragte der Diener,
der lautlos an ihre rechte Seite geglitten war. Sie nickte geistesabwesend, ohne ihn zu verstehen, und er schenkte ein.
»Ich höre gar keine Reaktion auf dieses doch wohl höchst ungewöhnliche Geständnis, Mademoiselle.« Machte er sich über sie lustig? Aber nein, er schien ganz ernst. »Vielleicht sollte ich Ihnen etwas über die schützende Kraft des Eisenhuts erzählen, den man auch Wolfsbann nennt, über nächtliche Metamorphosen bei Vollmond, über Silberkugeln und so weiter. Aber Sie werden nur erwidern: ›Ich bin eine moderne Frau‹, und mit diesem Argument jahrtausendealtes Wissen verwerfen. Stattdessen würde ich vorschlagen, dass Sie den Jungen fragen. Er wusste es sofort. Er weiß es jetzt. Übrigens ist er ebenfalls ein Werwolf.«
»Vielleicht leiden Sie, Graf, ja an einer Dementia, die Sie glauben lässt, dass Sie … kein Mensch sind«, mutmaßte sie. »Aber Johnny hat weit ernstere Probleme.«
»Das stimmt«, sagte der Graf. »Wie schnell Sie doch das Dilemma erahnt haben, Mademoiselle, das den Kern meiner Beziehung zu ihm bildet!« Er schien nicht weiter über das Thema sprechen zu wollen und wandte seine Aufmerksamkeit lieber einer Schnupftabaksdose zu, die ihm der Diener auf einem silbernen Tablett servierte.
Sie platzte beinahe vor Neugier und Enttäuschung und fragte ihn: »Und Dr. Szymanowski? Wer ist er?«
»Ein Visionär, meine liebe Mademoiselle! Wohingegen ich … Ich zahle bloß die Rechnungen. Übrigens, was halten Sie von Amerika?«
Von dem plötzlichen Themenwechsel vollkommen überrascht, sagte sie: »Sehr wenig, Graf! Ich weiß, dass es ein Land voller Wilder ist und von Gesindel regiert wird, das kaum zivilisierter ist als die Indiens peaux-rouges selbst.«
Der Graf lachte. »Ja, es ist ein wildes Land. Vielleicht werden Sie einmal verstehen, warum es die Wildnis in uns anspricht. In den Menschen, aber ganz besonders in uns, die wir … gestehen
Sie mir das wenigstens für den Augenblick zu … nicht ganz menschlich sind. Wir hören den Ruf bis übers Meer.« Scheinbar gedankenverloren fügte er hinzu: »Ich habe eine Reihe von Investitionen dort getätigt. Sehr kluge Investitionen, wie ich finde.«
Speranza hatte den Eindruck, dass er auf umständliche Weise versuchte, ihre Frage zu beantworten; zugleich provozierte er sie und wollte sie dazu verleiten, die Dunkelheit in ihrem Inneren zu offenbaren. Er hatte etwas von einem kleinen Jungen an sich, den ein Geheimnis plagte - ein Frosch in der Westentasche - die mit unsichtbarer Tinte geschriebenen obszönen Worte auf dem Lateinbuch. Er wollte wissen, ob er ihr die Wahrheit anvertrauen konnte, aber die Wahrheit erregte ihn so sehr, dass er sich kaum bremsen konnte, damit nicht alles aus ihm heraussprudelte. Selbst die Trauer in seinen Augen schien nicht mehr ganz so stark zu sein.
Ihr kam ein Gedanke: »Aber das Besteck … ist es nicht aus Silber? Und wenn Sie tatsächlich das sind, was Sie zu sein vorgeben … dann bereitet Silber Ihnen doch Qualen?«
»Meine liebe Speranza, nehmen Sie meine Löffel und Gabeln noch einmal in Ihre zarten Hände. Sind sie nicht ungewöhnlich schwer? Auf dem Tisch liegt kein einziges Besteckteil, das nicht aus reinstem Platin wäre.«
»Und Vollmond …«
»Wird es bald sein. Oh, sorgen Sie sich nicht, Mademoiselle Martinique. Sie werden vollkommen sicher sein, solange Sie ein paar einfache Regeln befolgen, die ich Ihnen vor Mondaufgang erklären werde. Ah, ich sehe, dass Sie
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