Wolfsruf
Schubert-Lied.
Er fühlte sich in diesen Kleidern nicht wohl; es war, als würde ihn, sobald er ihre Kleidung trug, auch ihre Wildheit beflecken. Er stand immer noch im Eingang, halb im Licht einer funzelnden Öllampe, und klopfte sich sorgsam den Schnee von seinem Mantel. Es war das gleiche wie vor wenigen Wochen in den Saloons in Lead. Er fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, in diese Stadt zu kommen, obwohl er wusste, dass sie war wie alle anderen; sein Auftraggeber würde es garantiert nicht merken, wenn er seinen Bericht ein wenig frisierte. Aber er wusste, wie wichtig seine Arbeit für alle - Menschen - alle Mitglieder des Lykanthropenvereins war, denen er, wie sein Kollege Cornelius Quaid in England, diente. Warum hatte der Graf nicht Quaid geschickt? Wenigstens hätte der Engländer keine Probleme mit der Sprache gehabt.
Im Raum stank es nach menschlichem Schweiß, Tabakrauch, Alkohol und altem Erbrochenem. Männer hockten an den
Tischen, tranken, spielten Karten. Ihre Kleidung war extrem fremdartig: Jedes Mal wunderte er sich über die breitkrempigen Hüte, die Leinenhosen - sie nannten sie Levi’s - und vor allem das extravagante Schuhwerk. In Lead hatte ihm einer erklärt, er würde seine Stiefel niemals ausziehen, nicht einmal im Bett. Das überraschte ihn nicht im Mindesten. Er war froh, Natalia im Vestibül der malerischen Holzkirche nicht weit von der Kutschenstation gelassen zu haben. Aber es war bald Zeit, sie zu holen; die Sonne ging bereits unter, und er musste sicherstellen, dass sie richtig untergebracht war. Sonst würde es Probleme geben.
Er wollte gerade den Saloon betreten, als die Tür aufgestoßen wurde und ihn an der Schulter traf. Er fühlte, wie sich etwas Kaltes, Hartes gegen seinen Rücken presste, sogar durch den Mantel.
Eine Stimme flüsterte: »Aus dem Weg, oder ich blas’ dich direkt in den Himmel.«
»Verzeihen Sie vielmals … ich wollte ganz bestimmt nicht …«
»Ein Fremder! Ich werd’ verrückt!« Wieder der Druck in seinen Rippen. »Schon mal den kalten Stahl von einem geladenen Derringer im Rücken gespürt, Fremder? Schon mal richtig Schiss gehabt, Baumwollpflücker?«
»Wenn Sie mir nur gestatten, meinen Angelegenheiten nachzugehen …«
»Dreh dich um und zeig, ob du ein Mann bist! Langsam!« Man wird mich töten, dachte er, ermorden in diesem wilden, gottverlassenen Land - und Natalia! Sich selbst überlassen, gestrandet in diesem Ort, wo niemand sie verstünde -
Plötzlich fiel ihm auf, dass alle im Saloon ihn anstarrten. Die Gespräche waren verstummt. Durch die Rauchschlieren konnte er ihre Augen sehen - voll kalter, böswilliger Freude. Er drehte sich zu seinem Gegner um. »Wollen Sie Geld?«
Gelächter brach aus. Es dämmerte ihm, dass dies ihre Art von
Humor war. Sie lebten ständig am Rande des Todes, diese Bewohner des Wilden Westens; kein Wunder, dass sie ihn für komisch hielten.
»Howdy«, sagte der Mann und ließ seinen Derringer mit einer eleganten Bewegung zurück in den Ärmel gleiten. »Darf ich mich vorstellen, Mister? Cordwainer Claggart heiße ich. Ah, Sie erkennen den Namen? Sogar in Ihrem Land hat man von Cordwainer Claggart gehört, dem genialen Erfinder, dem Schöpfer von Claggarts patentiertem Floccinaucinihilipilificator? Ich fühle mich geschmeichelt, Mister, wirklich geschmeichelt!« Er wandte sich zu den anderen um, fast als erwarte er Applaus, ein kleiner, kahler Mann mit einem weißen Gehrock und einer silbernen Weste, an der eine dieser modernen Dickens-Uhrketten hing. »Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Vishnevsky«, sagte er. Es war sein richtiger Name, aber er war zu verwirrt, um einen anderen zu erfinden, trotz der Anweisungen des Grafen. Für einen Rückzieher war es ohnehin zu spät, deshalb ergänzte er: »Valentin Nicolaievich Vishnevsky.«
»Das ist aber eine Menge Namen«, sagte Claggart. »Was macht denn so einer wie Sie in den Black Hills? Verrückt nach den gelben, glänzenden Steinen? Wollen Sie Reichtümer anhäufen wie einst Cressida?«
»Krösus«, korrigierte Vishnevsky unwillkürlich.
»Das wird Sie das Leben kosten!«, erklärte der kleine Mann scharf. »Ziehen Sie!«
»Ich möchte niemandem Unannehmlichkeiten bereiten, Mr Claggart«, erklärte Vishnevsky befangen. Seine Gedanken waren bei Natalia, er fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch bis Mondaufgang blieb. »Ich bin nur auf der Suche nach einem Zimmer.«
Die »weltberühmte« Amelia Nachtigall, die unerschrocken weiter
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