Wolfsruf
vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang. Whitewood Park zeichnete sich majestätisch am Horizont ab, mit scharlachrot glitzerndem Schnee bedeckt. Er und Zeke warteten etwas abseits des Grabes, an dem der Priester eine lateinische Litanei murmelte. Ein Junge in Soutane und dünnem Chorhemd schlotterte in der Kälte und schwenkte ein Weihrauchfass über dem offenen Grab. Die Witwe Bryant stand neben dem Grab. Es waren nur wenig Freunde und keine Angehörigen da. Ein paar Goldgräber waren zum Begräbnis gekommen. Ihre Hosenbeine wiesen noch die Querfalten neuer Fabrikhosen auf; sie hatten ihren Trauerstaat offenbar erst an diesem Tag gekauft und noch keine Zeit gefunden, die Falten
auszubügeln. Mrs Bryant weinte in ein Spitzentaschentuch. Der Weihrauchduft mischte sich mit dem schwachen Alkoholdunst, der aus dem Saloon weiter unten drang.
»Hier werden wir nicht mehr gebraucht«, flüsterte Zeke. »Ich schätze, wir haben uns einen Schluck Schlangengift redlich verdient.« Er begann Scott in Richtung der Kirche zu ziehen.
Scott sagte: »Wir sind dafür verantwortlich, dass der Witwe nichts passiert. Aber vielleicht …« Er drehte sich um und sah in diesem Augenblick eine Frau im Schatten der Kirche stehen, die auf den Hügel starrte. »Sieh sie dir an«, sagte er.
Zeke grunzte.
Die Frau kam langsam auf sie zu. Sie berührte jedes Holzkreuz mit der Hand und wischte dabei den Schnee ab. Sie trug ein Reisekleid aus Serge und eine Hermelinstola, und ihr von feuerroten Locken umrahmtes Gesicht wurde von einer pelzbesetzten Haube überschattet. Ihr Gang hatte etwas Herrisches an sich; er erinnerte Scott irgendwie an seine Mutter, die vor mehr als zehn Jahren gestorben war. Ihre Augen waren groß und golden - ganz bestimmt eine Spielerei des Abendlichts; ihr Gesicht war bleich, fast blutleer. Ohne nachzudenken und ohne auf Zekes gemurmeltes: »Lass sie in Ruhe«, zu achten, war er bereits auf sie zugegangen. Als er ihr näher kam, erkannte er, warum ihm ihre Augen so vertraut vorkamen.
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte die Frau. »Ich bin aufdringlich, ist es nicht so? Aber ich bin fremd hier.«
Eine Einwanderin, dachte Scott. »Hier im Dakota-Territorium legen wir keinen besonderen Wert auf die Manieren, die in der Alten Welt gelten, Madam«, versicherte er ihr. Aber er zog seinen Hut und verbeugte sich vor ihr, und sie lächelte. »Brauchen Sie vielleicht Beistand? Wo Sie ganz ohne Begleitung und jeden …«
»Können Sie vielleicht bei mir bleiben und sich mit mir unterhalten? Ich muss warten auf meinen Cousin. Aber ich habe
Ihnen noch gar nicht gesagt meinen Namen. Ich bin Natalia Petrowna Stravinskaya.« Sie lachte. »Das ist … eine Menge Namen, nicht wahr? Habe ich gesagt das Richtige, eine Menge Namen?«
Scott lachte. »Warum hat Sie Ihr Cousin hier ganz allein zurückgelassen? In dieser Stadt gibt es viele Verrückte.«
»Er wollte mir ersparen, dass ich … ich kann es nicht erklären. Sprechen Sie Französisch?«
»Nur ein paar Worte, Madam. Aber ich dachte … wegen Ihres Namens … dass Sie Russin wären.«
»Russisch man spricht nur mit den Dienern.«
»Ich verstehe«, sagte Scott, obwohl er eigentlich nicht verstand. Sie schwiegen eine Weile und lauschten der Stimme des Priesters. Der Wind trug ein paar Schneeflocken mit sich, und die Schatten der Grabsteine waren lang. Scott wusste, dass er sich eigentlich zu Zeke und den anderen gesellen sollte, aber er stand wie angewurzelt. Es war wie in dem Indianerdorf. Auch diesmal waren es die Augen - die Augen der Frau, Wolfsaugen. Und der wilde Geruch nach Erde und Urin, den das Parfüm der Frau nicht ganz überdecken konnte. Vielleicht schnappe ich ja langsam über, dachte Scott. In jeder Frau, die ich anschaue, sehe ich einen Wolf. Er fragte sich, ob das daher kam, dass er keine Frau mehr gehabt hatte, seit er ins Territorium gekommen war. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so angestarrt habe, Madam«, sagte er. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie unbeholfen und unhöflich er wirken musste.
Sie antwortete ihm nicht direkt, sondern sagte nur: »Diese Grabkreuze sind sehr hübsch. Warum werden sie gemacht aus Holz? Sie sind so vergänglich. Wenn sie verfaulen, der Tote ist vergessen, nicht wahr? Ich habe mir oft gewünscht, so zu sterben.«
»Wie meinen Sie das? Sie möchten nicht, dass sich jemand an Sie erinnert, wenn Sie tot sind?«, fragte Scott verwirrt.
Sie sagte: »Ich bin nicht wert, dass man sich erinnert an
mich. Aber ich mache Sie unsicher,
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