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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Pfoten. Mit einem Brüllen fiel der Graf auf alle viere. Seine Zähne trieften vor Geifer. Der Gestank wurde noch intensiver. Ihre Kehle zog sich zu. Sie schmeckte Erbrochenes in ihrem Mund. Dann sprang der Wolf.
    Sie wurde umgeworfen. Sie fiel mitten ins Mondlicht. Die Bestie zerfetzte ihr Kleid. Es begehrt mich immer noch, dachte sie. Der Wolfsspeichel sprühte über ihr Gesicht und floss ihr am Hals herunter. Sie versuchte, sich zu wehren, aber er stand jetzt über ihr, war bereit, seine Zähne in ihre Kehle zu schlagen -

    Er berührte das silberne Halsband -
    Und zog sich jaulend zurück! Speranza richtete sich hastig auf. Der Wolf beobachtete sie misstrauisch. Wo seine Pfote das Halsband berührt hatte, war eine Brandnarbe zu sehen - ein Abbild der silbernen Kettenglieder. Der Wolf winselte und knurrte. Es roch nach verschmortem Fell. Ihr Herz schlug wie wild. Der schleimige Sabber lief jetzt über ihren Hals, über ihre nackten Brüste.
    Sie tastete sich bis zur Türe vor, riss sie auf, kletterte über die Kupplung in den nächsten Wagen, trat ein. Als sie die Tür hinter sich zuschlug, hörte sie ein verzweifeltes Heulen über der Kakofonie des Eisens und Dampfes.
     
    Einen langen Augenblick stand sie bewegungslos. Das Heulen erstarb oder ging im Rattern des Zuges unter. Sie kreuzte ihre Arme vor ihrer zerrissenen Bluse, und die kalte Luft betäubte jene Stellen ihres Körpers, wo die Berührung des Wolfes sie verbrannt hatte.
    Sie betastete die silberne Halskette. Sie war kühl. Sie dachte: unmöglich, das ist vollkommen unmöglich.
    Hatte man vielleicht mit einem Zaubertrick gearbeitet? Mit Tierdung und suggestiven Verkleidungen? Denen ein Verstand, der schon auf eine übernatürliche Metamorphose gefasst war, keinen Widerstand mehr leisten konnte? Mondlicht strömte in den Gang. In der Ferne waren Berge zu sehen. Davor stand eine Kirche, in Schnee gehüllt, deren schneebedeckter Kirchturm das kalte Licht auffing und im Mondlicht glitzerte.
    Sie dachte an Johnny.
    Was immer der Graf auch war, er versuchte, Johnny zu einem der ihren zu machen. Vielleicht gehörte das alles zu einem unmenschlichen wissenschaftlichen Experiment - oder zu einer Art Teufelsanbetung. Hatte Cornelius Quaid nicht von Verstümmelungen und unvorstellbaren Grausamkeiten gesprochen? Das arme Kind!

    Ich muss ihn entführen, dachte sie. Ich kann nicht zulassen, dass er hierbleibt, unter der Obhut dieser Wahnsinnigen - er ist ein Lamm unter Wölfen!
    Vielleicht hatten sie ihm ja schon etwas angetan -
    Sie öffnete die Tür zum Abteil.
    Wind schlug ihr ins Gesicht. Das Fenster war eingeschlagen worden. Der Boden, die Sitze waren schneebedeckt. »Wo ist er?«, fragte sie.
    Sie sah nur das junge Dienstmädchen. Sie lag auf einem der Sitze, mit einem Tuch bedeckt, und starrte in die Luft.
    »Wo ist der Junge?«, fragte Speranza.
    Das Mädchen antwortete nicht.
    »Wo ist er? Ich habe ihn Ihnen anvertraut!«
    Immer noch erhielt sie keine Antwort.
    »Ich habe genug von dieser Geheimnistuerei!«, schrie Speranza. Wut und Frustration packten sie. Sie schlug die Bedienstete ins Gesicht.
    Der Kopf des jungen Mädchens plumpste vom Sitz. Das Schaukeln des Zuges ließ ihn zwischen zwei Sitzen vor- und zurückrollen, vor und zurück.
    Langsam glitt das Tuch zu Boden. Darunter kam ein Knäuel von Körperteilen zum Vorschein. Und mittendrin, in die blutigen Eingeweide gewickelt, wie ein Neugeborenes in seine Nabelschnur, lag ein kleiner, nackter Junge, der in seiner Hand etwas hielt, das aussah wie ein menschliches Herz. Er schluchzte untröstlich.
    »Johnny!« Sie war zu entsetzt, um Ekel zu spüren.
    Langsam verebbten die Schluchzer des Jungen. Langsam hob er seinen Kopf aus dem Chaos von Blut und menschlichem Gewebe. Sein Mund, seine Wangen waren mit Blut verschmiert, das im silbernen Mondlicht schwarz glänzte. Sein Haar war vollkommen verklebt. Er sagte: »Ich hab alles versucht, damit Jonas nicht kommt. Ich hab alles versucht, Speranza. Ich wollte, dass du nichts merkst, deshalb hab ich das meiste von ihr schon
aus dem Fenster geworfen, aber ich habe nicht genug Zeit gehabt. O Speranza, es ist hoffnungslos, ich werde nie wie die anderen Menschen.«
    Speranza fiel wieder ein, was auch der Graf von Bächl-Wölfling zu ihr gesagt hatte: »Deshalb, Speranza, sehne ich mich nach Hoffnung.« Sie wusste, dass sie den Jungen jetzt nicht verlassen konnte. Obwohl er getötet hatte. Es war eine Krankheit, eine entsetzliche Krankheit. Sie schluckte ihre

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