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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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seine Stirn. Sie war schweißnass. Sie schüttelte ihn. Er wachte nicht auf. »Johnny«, flüsterte sie. »Johnny.«
    Er stöhnte.
    »Johnny!« Warum gerate ich in Panik, dachte sie. Ich brauche wirklich keine Angst zu haben. Ich muss ihm die Stirn kühlen.
    Sie öffnete die Abteiltür. Das Mädchen, das sich schon einmal
um Johnny gekümmert hatte, schlief auf dem Gang. Es erwachte augenblicklich. »Der … Graf schickt mich, gnädiges Fräulein.«
    Der Graf -
    »Hat er dem Jungen etwas angetan?« Grausige wissenschaftliche Experimente - geheimnisvolle Mittel im Essen - Mesmerismus - »Holen Sie Wasser. Schnell.«
    »Jawohl, gnädiges Fräulein.« Das Mädchen eilte durch den schmalen Gang. Wind drang durch ein offenes Fenster und besprenkelte ihr schwarzes Kleid mit Schnee. Sie trug immer noch die silberne Kette mit den Amethysten.
    Ein durchdringender Geruch zog in den Korridor - nach tierischem Urin. Sie hörte im Abteil etwas tröpfeln. Der arme Kleine, dachte sie. Er nässt sich ein. Sie ging wieder hinein.
    Sie betrachtete ihn im Mondlicht. Auf seinem Nachthemd hatte sich ein großer Fleck gebildet. Der Urin floss auf den Boden des Abteils. Seine Augäpfel schossen hinter den zusammengekniffenen Lidern hin und her. Sein ganzer Körper glänzte vor Schweiß. Der Urin floss und floss. Sie hielt sich die Nase mit einem Taschentuch zu, aber der widerliche Gestank nahm ihr den Atem. Wo blieb das Mädchen? Hatte sie nicht begriffen, dass der Junge krank war? Erneut trat sie in den Gang hinaus. Die Kälte fuhr ihr in die Knochen. Die Angst kam wieder, schlich sich in ihre Gedanken. Das Mädchen, dachte sie, das Mädchen -
    »Endlich!«, brach es aus ihr heraus, als das Mädchen zurückkehrte. Sie hielt etwas in ihren Armen … eine kleine Flasche und ein Buch … eine Bibel, bemerkte Speranza. »Sie sollten doch Wasser holen!«
    »Weihwasser«, hauchte das Mädchen voll Entsetzen.
    »Was ist mit Ihnen?«, herrschte Speranza sie wütend an. »Kommen Sie herein und helfen Sie mir mit dem Kind.« Sie ging zurück ins Abteil und schob ihren Arm unter den Nacken des Kindes, um es aufzusetzen. Der Junge war schlaff, fast leblos.
Pisse spritzte quer über Speranzas Kleid. Das Mädchen blieb in der Tür stehen.
    »Helfen Sie mir endlich …«
    Das Mädchen schlug ein Kreuz und senkte den Blick. Das Mädchen hielt ihr das Weihwasser und die Bibel hin.
    »Das ist Unfug, absoluter Unfug!«, schimpfte Speranza. »Aberglauben und blasphemischer Unfug! Ihr seltsamer Graf hat Sie alle unter dem teuflischen Einfluss seiner verrückten Ideen … Sie müssen sich beruhigen.« Wie viel mochte sie davon wohl verstehen?
    »Ich habe Angst, gnädiges Fräulein«, antwortete das Mädchen auf Deutsch.
    »Hören Sie auf zu schwätzen und …« Sie versuchte, ihr die Flasche wegzunehmen. Sie fiel zu Boden und zerbrach. Wasser vermischte sich mit Urin und begann zu brodeln. Ätzender Dampf stieg auf. Speranza hustete. Das Mädchen kreischte. Trotzdem wachte der Junge nicht auf. »Sie sehen doch, dass der Junge kein Werwolf ist«, fauchte Speranza, die versuchte, trotz allem Ruhe zu bewahren. »Bleiben Sie bei ihm. Ich hole den Grafen. Wir werden diese Angelegenheit jetzt ein für alle Mal klären. Bleiben Sie bei dem Jungen, verstanden?«
    Das Mädchen hatte sich an die Wand gepresst und schluchzte verzweifelt. »Was ist mit Ihnen?«, fuhr Speranza sie an. »Er wird Sie schon nicht umbringen.« Die Hysterie des Mädchens zerrte an ihren Nerven. Der beißende Geruch - zweifellos eine seltsame chemische Reaktion des Wassers mit dem Urin - brannte in ihrer Nase. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie verschwand in den Gang und knallte die Abteiltür hinter sich zu.
     
    In diesem Augenblick sprang Jonas auf die Lichtung, ergriff die Kontrolle über den Körper und zwang die müden Kinderaugen auf, die wie Feuer im Mondlicht brannten.
    Und heulte.

    Speranza fühlte wieder die Angst. Es muss der Wind sein, dachte sie, dieser ewige, traurige Wind. Er heulte durch den Gang. Die Wände waren feucht, und Schnee schimmerte auf dem fadenscheinigen Teppich.
    Sie musste ihn sehen. Sie musste sein entsetzliches Spiel entlarven, musste ihre Angst besiegen. Sie arbeitete sich bis zum Ende des Ganges vor, stolperte, als der Zug ruckte. Sie öffnete die Waggontür.
    Der Wind fegte ihr ins Gesicht, pfeifend, so kalt, dass ihr der Atem stockte. Sie fasste einen Griff. Niemand war da, um ihr über die Kupplung zu helfen, die zwischen den beiden Waggons quietschte und

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