Wolfsruf
Angst hinunter und nahm ihn in die Arme. »O Johnny, aber du musst hoffen!«, weinte sie.
»Ja, das muss ich, nicht wahr?« Und dann begann das Kind bitterlich zu weinen, als wäre das Ende der Welt gekommen, und seine Tränen mischten sich mit dem Blut.
9
Deadwood
Vollmond
Durch eine Hintertür gelangte man aus dem Saloon in einen Innenhof. Dorthin zog sich Cordwainer Claggart zurück, um sein Geld zu zählen und den weiteren Verlauf der Nacht zu überdenken. Er lächelte, als er sah, dass die Witwe Bryant bereits dort war und der kalten Luft trotzte. Der Wind war feucht und eisig, und der Schnee türmte sich an den Wänden. Es war schmutziger Schnee, der nach Schnaps und Erbrochenem roch.
Sie betrachtete den Mond, der aufgeblasen und kalkweiß über den Hügeln hing. Sie tut nur so, als würde sie mich nicht bemerken, dachte Claggart. Ich will verdammt sein, wenn sie nicht schon wieder nach einem neuen Mann Ausschau hält. Sie war sehr einfach gekleidet, aber sie hatte ihr Gesicht ein bisschen geschminkt und ihren Schleier bereits abgenommen.
Er beobachtete sie aus dem Schatten des Hauseingangs heraus,
legte sich seine nächsten Schachzüge zurecht, sah sich als einsamen Wolf, der seine Beute ausspäht, sie umkreist, mit ihr spielt. Und doch gab sie selbst das Zeichen, ein winziges Kopfnicken. Claggarts Freude wuchs. Ich hatte recht - sie muss wirklich verzweifelt sein, dachte er und fragte sich, was für ein Mann ihr toter Gatte wohl gewesen war. Er hatte sie vernachlässigt, das war offensichtlich, hatte bestimmt nur für sein Gold gelebt. Und sie manchmal geschlagen. Wahrscheinlich hatte er das als praktische Methode angesehen, den Körper für die Nacht anzuwärmen. Na, es konnte nicht schaden, eine Frau hin und wieder zu verdreschen. Claggart schlenderte zu ihr hinüber und überlegte währenddessen, welcher Eröffnungssatz aus seinem großen Repertoire angebracht wäre. Sein Finger blutete immer noch, aber die Kälte ließ ihn taub werden.
Bevor er aber das Wort an sie richten konnte, sagte sie: »Sie beobachten mich schon den ganzen Abend, Mister. An meinem Aussehen kann es nicht liegen, also sind Sie hinter meinem Geld her. Obwohl mein Gatte kaum unter der Erde liegt! Sie sollten sich schämen, Mr Claggart.«
Claggart fühlte einen Augenblick Panik in sich aufsteigen. Und doch, dachte er, interessiert sie sich immerhin so sehr für mich, dass sie sich die Mühe gemacht hat, meinen Namen herauszufinden.
»Sie besitzen Verstand, Madam«, schmeichelte er.
»Ganz bestimmt«, antwortete Sally Bryant.
»Ich hoffte nur, Ihnen ein wenig … Erquickung in Ihrem … Schmerz spenden zu können«, schmeichelte er. Er zitterte. Es hatte fast ganz aufgehört zu schneien, aber der Wind war bitter kalt.
Plötzlich lächelte sie. »Erquickung!«, sagte sie. »Haben Sie das absichtlich gesagt?«
Claggart runzelte die Stirn. »Ich war nie auf keiner Schule nicht. Bin von zu Hause fortgelaufen, als ich sieben war. Ich hab’s einfach nicht ausgehalten, Madam. Alle meine Worte
kenn’ ich von meinem Pa, wenn er nicht gerade die Rute auf meinem Allerwertesten tanzen ließ.« Dieser Teil seiner Vergangenheit zumindest entsprach der Wahrheit, auch wenn Claggart die Geschichte seiner traurigen Kindheit bereits so oft erzählt hatte, dass sie ihm inzwischen selbst wie ein Märchen erschien. Seine Geschichten waren wie ein eselohriges Kartenspiel, das er in Windeseile zu einer brandneuen Vergangenheit mischen konnte. »Mein Pa war … Prediger könnte man dazu sagen, schätze ich. Jedenfalls nannte er sich so. Nichts ist so erfolgreich wie Predigen, wenn man den Leuten in die Tasche greifen will, keine Karten, kein Schlangenöl, keine Waffengeschäfte mit den Indianern. Ich weiß das, weil ich alles ausprobiert hab. Pa war hart zu uns, deshalb bin ich abgehauen.« Auch das entsprach der Wahrheit, obwohl Claggart der Witwe unterschlagen hatte, dass er dabei das Haus seines Vaters abgefackelt und sein zweitbestes Pferd gestohlen hatte und dass er eine Weile versucht hatte, in Abilene zu überleben, indem er seine zehnjährige Schwester für einen halben Dollar auf den Strich geschickt hatte. Zweifellos mutmaßte die Witwe bereits, dass seine Vergangenheit nicht besonders ehrsam verlaufen war, aber er glaubte nicht, dass sie allzu wählerisch sein würde. Trotzdem erschien es ihm angebracht, ein Mindestmaß an Ehrsamkeit anzudeuten, deshalb fuhr er fort: »Ich hab ein Vermögen mit Gold gemacht, aber mein Partner hat
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