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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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die Wölfe. In den Tiefen des Waldes gab es noch unfertige Personen, die langsam stärker wurden. Johnny konnte sie riechen. Vor allem konnte er Jonas riechen. Jonas, der tot an einem Baum hing. Jonas, der lachte, sodass die Speichelfäden an seinen Reißzähnen glänzten. Der ihn rief: »Johnny, Johnny, du dummer Junge, du bist bloß eine beschissene Einbildung, du bist bloß ein Traum.«
    »Lass mich durch …« Er musste ins Licht treten, bevor der Körper aufwachte. Weil der Mond bald aufgehen würde.
    »Durch? Du existierst ja nicht einmal. Der Körper gehört mir, und du bist bloß ein kleines Ding, das ich mir ausgedacht habe, um mich zu amüsieren. Geh weg, husch, husch. In die Dunkelheit, hörst du? Oder ich hole …«
    »Nein!«
    »Unseren Vater.«
    »Unseren Vater in der Hölle«, flüsterte Johnny.
    »In der Hölle.« Er konnte Jonas jetzt deutlicher sehen. Der andere Junge schwang vor und zurück, vor und zurück. Er sah aus wie eine Karte im Tarotspiel ihrer Mutter - der Gehängte. »Fick dich ins Knie! Warum musst du an unsere Mutter denken, blöder Johnny? Willst du wieder ins Irrenhaus? Erinnerst du dich gern an deine Jahre in der Gosse, mein kleiner bekloppter Bruder?«

    »Ich habe vergessen, dass du meine Gedanken lesen kannst.« Der Gedanke an ihre Mutter konnte Jonas immer noch verletzen. Johnny versuchte, wieder an sie zu denken, aber er blickte bloß in ein riesiges schwarzes Loch. Jonas hatte ganze Arbeit geleistet, hatte alle Fetzen der Vergangenheit ausgelöscht, die ihm missfielen, sie beiseitegeräumt wie den Müll, der das Themse-Ufer säumte, wie den Schrott, der sich an den Wänden ihres Heimes gestapelt hatte. Jonas hatte ihn schon immer herumgestoßen. Wenn die Schläge begannen, hatte er Johnny auf die Lichtung geschoben, sodass Johnny den ganzen Schmerz spürte. Obwohl immer Jonas etwas angestellt hatte. »Geh raus aus meinem Kopf!«, schrie Johnny verzweifelt.
    »Unserem Kopf. Nein. Meinem Kopf. Es ist mein Kopf, du bist in meinem Kopf. Warum kannst du nicht genauso sein wie ich? Ich bin keine rotznäsige Heulsuse, die Angst vor der Wahrheit hat. Unsere Mutter hat die Wahrheit nie ertragen, stimmt’s? Du bist feige, genau wie sie, feige, feige, feige.«
    Johnny begann zu laufen. Der Schlamm klebte an seinen Zehen. Sträucher zerrten an seinen Füßen. Dornen rissen seine Arme auf, öffneten alte Wunden. Die Lichtung kam einfach nicht näher. Er sprang über verrottete Stämme und bemooste Steine. Er musste als Erster dort sein, er musste Jonas besiegen. Angst strömte in ihn. Er wusste, dass Jonas von Baum zu Baum schwang, mit seinen Tieraugen das Dunkel durchdrang. Da war sie! Er war jetzt am Rand, er brauchte nur noch hineinzutreten -
    Er stürzte! Zweige und Blätter wirbelten um ihn herum. Er hockte auf dem Grund einer Grube. Er atmete unruhig. Seine Hand stieß auf etwas Hartes. Bleiches Licht drang von der Lichtung herunter. Er sah, wer mit ihm zusammen in der Falle saß … ein Skelett, an die Wand geschmiedet mit Silberketten, die im Licht glänzten - kalt, kalt, kalt.
    »Lass mich raus …«

    Jonas stand über ihm. »Der Körper gehört mir«, verkündete er langsam, triumphierend. Johnny sah, dass er sich bereits verwandelte. Die Schnauze brach unter den menschlichen Hautlappen hervor - die Augen wurden schmäler, änderten ihre Farbe.
    Verzweifelt hämmerte Johnny an die Wände seines Gefängnisses. Und Jonas’ Lachen klang bereits wie tierisches Heulen.
     
    Speranza wachte bei dem schlafenden Jungen. Der Mond ging auf. Sie hatte die wahnwitzige Prophezeiung des Grafen, der Junge würde sich in diesem Moment in einen Wolf verwandeln, schon halb geglaubt - doch das Kind schlief friedlich zusammengerollt auf seiner Wolldecke.
    Speranza betrachtete den Mond. Sie wusste, dass sie bald zu dem Grafen gehen würde. Seit sie die österreichisch-ungarische Grenze überquert hatten, waren ihre Furcht und ihr Verlangen gleichermaßen gewachsen. Sie fuhren durch einen dichten Wald. Kahle Bäume mit schweren Eiszapfen an den Ästen verdunkelten den Trabanten. Der Zug ratterte und schnaufte und schien zu atmen. Sie beruhigte sich und schaute wieder auf die Bäume. Bald, dachte sie, bin ich diese Verrückten los. Was dann?
    Der Junge rührte sich. Er stöhnte. Unter den geschlossenen Lidern huschten seine Pupillen fieberhaft hin und her. Sie nahm seine Hand. Zuckte zurück. Der Knabe war glühend heiß. Glühend heiß! Er muss Fieber haben, dachte sie. Vorsichtig berührte sie

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