Wolfsruf
mischte sich Johnny ein. »Das ist das Stadthaus von dem Grafen, der mir so viel Angst macht.«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Er ist ein sehr großzügiger Mann.«
Einen Augenblick lang bekam Speranza Panik, denn sie
fürchtete, dass der Junge den Wohnsitz des Grafen mit seinem Urin markieren könnte. Doch der mysteriöse Jonas tauchte nicht auf, und der Junge war brav wie ein Engel - es war beinahe beängstigend, dachte Speranza.
»Dr. Szymanowski kommt aus einer kleinen Stadt in Polen, und der Graf hat ihm großzügigerweise ein Appartement in seinem Stadthaus überlassen. Außerdem gestattet er ihm, den Keller für seine Experimente zu benutzen. Er ist ein harmloser alter Trottel, dieser Doktor. Er ist Experte, müssen Sie wissen, auf dem Gebiet … äh … der Fortpflanzung von Wölfen. Ein etwas delikates Thema … vielleicht möchte eine Dame wie Sie …«
»O bitte, Monsieur Freud, ich bin die ewigen Galanterien und die ständigen Verweise auf meine sensiblen Nerven wirklich leid!«
Freud lächelte verhalten. »Es ist seltsam, nicht wahr? Ich habe Sie gerade erst kennengelernt, und doch offenbaren Sie mir schon Ihre innersten Wünsche … ich scheine das aus den Menschen herauszulocken.«
Sie schwiegen eine Weile. Speranza beobachtete, wie die Gäste des Grafen die Treppen hinaufstiegen. Ein Herr mit Turban war darunter, dessen mit Juwelen bestickte Seidenkleider in ihrer Farbenpracht sie fast blendeten: türkis, grellrosa, zitronengelb und erbsengrün. Eine zerlumpte alte Frau war darunter, die aussah wie eine Handleserin aus einer Operette. Elegant gekleidete Herren mit Zylindern und langen Fracks unterhielten sich mit anderen, die nicht so aristokratisch wirkten. Aber alle wurden gleich höflich von den Dienern des Grafen begrüßt.
»Ach, ich muss Sie noch um einen kleinen Gefallen bitten, gnädiges Fräulein.«
»Aber natürlich.«
»Der Graf ist nicht zu Hause … er ist bei den Einbalsamierern und kümmert sich um den Leichnam der armen jungen Frau … und die Ankunft des Jungen soll eine, nun, Überraschung
werden. Ich hoffe, es macht Ihnen nicht allzu viel aus, wenn Sie den Eingang für die Bediensteten benutzen? Dr. Szymanowski ist ebenfalls ausgegangen, er unterrichtet vor dem Essen noch ein paar Studenten darin, Gehirne zu sezieren, aber der Butler wird Ihnen den Jungen bestimmt abnehmen und Ihnen den noch ausstehenden Lohn zahlen. Außerdem wird er Ihnen eine Unterkunft besorgen, bis Sie beschließen, Ihre Reise fortzusetzen …«
»Ich gehe nicht!«, schrie der Junge. »Nicht ohne sie! «
»Ich habe befürchtet, dass das geschehen würde.« Freud schüttelte den Kopf. »Sie waren so lange Zeit auf sehr engem Raum zusammen, das hat eine starke Verbindung geschaffen. Ich habe den Grafen gewarnt, aber er wollte es nicht anders haben. Es war Ihr Name, wissen Sie: la speranza …«
»Ja. Mein Name bedeutet ›Hoffnung‹«, bestätigte Speranza, aber diese Bedeutung war ihr noch nie so fehl am Platz erschienen wie jetzt. Sie wusste, dass sie den Jungen nicht diesen Leuten überlassen konnte; der Vertrag, den sie in London geschlossen hatte, war bedeutungslos. Johnny war keiner von ihnen, nicht ganz. Vielleicht war er zu derselben Verwandlung fähig wie der Graf; vielleicht war er tatsächlich ein Werwolf, so albern ihr diese Vorstellung bei hellem Tageslicht auch erschien. Aber etwas an ihm war anders - etwas, was die teure Reise des Kindes quer durch Europa rechtfertigte. Was hatte Dr. Szymanowski mit ihm vor? Dieses Gerede von Gehirnen und vom Sezieren - sie würden doch hoffentlich nicht -
»Ich gehe nirgendwohin ohne Speranza«, bekräftigte Johnny noch einmal.
»Nun, vielleicht lässt der Graf darüber mit sich reden«, beschwichtigte Freud. »Aber«, und er blickte Speranza ernst in die Augen, als er das sagte, »Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Freundeskreis des Grafen sehr … exzentrisch ist. Sie müssen wirklich auf alles vorbereitet sein.«
Der schreiende Junge klammerte sich an Speranzas Decke,
und die Pferde, die dieser Ausbruch nervös machte, bäumten sich auf und wieherten. Plötzlich setzte Wind ein, der den Schnee aufwirbelte; als Speranza ihren Blick von dem Stadthaus des Grafen abwandte, glaubte sie, Tränen aus den Augen der obszönen Madonna fließen zu sehen.
Es machte ihr nichts aus, dass sie durch den Dienstboteneingang eingelassen wurden, der von der Straße durch die zwei Schmuckbalustraden der Hausfront abgeschirmt wurde. Lord
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