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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Feuer anstarrte, barg ihr Geheul keine Worte. Sie hatte ihre Stimme verloren, sie war recht einfältig geworden.
    »Es ist gut, dass du nicht mehr denkst wie ein Mensch«, tröstete sie die alte Frau. »Du bist näher am Herz der Dinge, näher am Rhythmus des Universums. Ich kann verstehen, dass du nicht mehr sprechen möchtest.« Sie spürte trotzdem die Liebe ihrer Schwester; warum sonst hatte die Wölfin sie noch nicht getötet und aufgefressen? Deshalb sprach sie weiter, zu sich selbst ebenso wie zu ihrer Schwester, und frischte alte Erinnerungen auf: »Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal einen weißen Mann sahen? Damals waren wir noch Kinder. Wir fanden einen Biber in einer Falle. Es war Metall in der Falle, und wir wussten nicht, was das war. Dann kam der Mann und tötete den Biber, während wir uns im Gebüsch versteckten. Wir dachten, er wäre krank, aber Großvater erklärte uns: ›Nicht seine Haut ist krank, sondern seine Seele.‹ Und ich fragte ihn: ›Gibt es bei den weißen Menschen auch welche, die den Pfad zwischen den Menschen und den Tieren kennen? Haben sie ihre eigenen Wichasha Shungmanitu?‹ Und er lachte und sagte: ›Sie kennen sich nicht einmal selbst. Jeder von ihnen trägt ein Tier in seinem Inneren.‹«
    Die Flamme erlosch. Das Eis an den Bäumen klingelte im Wind. Sie zog den Büffelumhang noch fester um sich, stopfte ihn unter die ruhende Gestalt ihrer Schwester, bedeckte auch den Kopf der Wölfin, bis nur noch eine winzige Öffnung für die Schnauze freiblieb. Dann kuschelte sie sich an sie.
    Sie flüsterte: »Ich habe zum ersten Mal an den Worten
meines Großvaters gezweifelt, als ich den kleinen Soldaten sah. Er schien mich fast zu verstehen, als ich in der Sprache der Wölfe zu ihm sprach … aber später erkannte ich, dass er nicht wirklich zu uns gehörte. Vielleicht kann er einer von uns werden. Vielleicht ist es eine Vorahnung. Aber später, als wir bei den Häusern der Weißen waren … als wir die Wölfe und die Jäger hörten … da glaubte ich eine andere Stimme zu hören. Da war noch jemand … nicht bei den Wölfen, sondern in einem anderen Teil der Stadt … ich hörte eine Stimme wie die unsere … und trotzdem habe ich sie nicht verstanden. Ich wusste, dass es Worte waren, aber ich verstand kein einziges davon. Da dachte ich zum ersten Mal, es gibt doch Wichasha Shungmanitu unter ihnen.«
    Mit der Hand wischte sie sich den Schnee aus dem Haar. Dann kämmte sie zärtlich mit den Fingern durch das Fell der Wölfin, zupfte die Läuse ab, die die Wölfin quälten, denn ihre Schwester war zu schwach, um sich selbst zu pflegen. Und sie sang, bis sie beide in Schlaf fielen und das Feuer erkaltet war.
     
    Am Morgen stiegen sie in ein Tal hinab. Schnee fiel, ununterbrochen, aber nicht stark. Der Platz des Mondtanzes war nicht mehr weit entfernt.
    Sie überquerten einen zugefrorenen Bach. Es gab nichts zu essen. Die Hügel standen wie eine weiße Mauer hinter ihnen.
    Ihre Schwester lief voraus, keuchend. Die alte Frau konnte nicht Schritt halten, aber die Markierungen ihrer Schwester wiesen ihr den Weg, und sie wusste, dass ihre Schwester von Zeit zu Zeit auf sie warten würde. Sie ging langsam, schmerzgebeugt, musste immer wieder Atem schöpfen.
    Plötzlich hörte sie das Jaulen der Wölfin. Was hatte sie gesehen? Sie eilte hügelabwärts, so schnell sie konnte. Ein Schrei entfuhr ihr, als sie auf dem rutschigen Hang ausglitt. Und dann sah sie, was ihre Schwester mit den Pfoten ausgegraben hatte.

    Es glänzte im Schnee: lang und glatt, zu gleichmäßig, um von der Natur gemacht zu sein. Es war Metall.
    Die alte Frau hatte ihre Schwester erreicht und schaufelte mit den Händen den Schnee beiseite, und sie sah, dass sich der Metallstrang in beide Richtungen zog. Es waren zwei Stränge, die nebeneinanderliefen und in gleichmäßigen Abständen mit dicken Hölzern verbunden waren. Wie weit reichte das Metall wohl, und wozu mochte es dienen? Wussten die Menschenbrüder davon? Die Shungmanitu lebten sehr zurückgezogen, blieben unter sich, weit hinter den Hügeln, und ihre zweibeinigen Brüder hatten schon viel über die Washichun gelernt, was die Shungmanitu noch nicht wussten.
    Die Wölfin heulte wieder. »Was willst du mir sagen, Mitankala? «, flehte die alte Frau.
    Aber sie spürte es schon selbst - die Erde bebte - in der Ferne stieg eine dunkle Rauchwolke aus dem Tal auf - sie konnte das Fauchen eines riesigen Untiers hören, das Donnern der Metallbeine, und sie roch den

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