Wolfsruf
Slatterthwaite, so freundlich er gewesen war, hatte sie immer nur als Bedienstete behandelt; Speranza erwartete auch hier nichts anderes, trotz der Tatsache, dass der Hausherr aus seinen fleischlichen Gelüsten nach ihr keinen Hehl gemacht hatte.
Erst einmal durfte Speranza sich umziehen. Sie zog die feinsten Kleider an, die ihr noch verblieben waren. Eine unbestimmbare Furcht ließ sie auch ihren Silberschmuck anlegen.
Alle drei wurden durch den Keller geführt, wo sich die Küche, der Spülraum, Lagerräume und einige Dienstbotenzimmer befanden, dann stiegen sie eine Treppe hinauf und gelangten in einen kleinen Salon, wo die Dienstmädchen Kaffee, Tee und Schokolade zubereiteten und darauf warteten, dass sie gerufen wurden.
Es war ein gemütlicher Raum; zwei unförmige, abgenutzte Sessel waren dem Kamin zugewandt, und an einer Wand stand ein hässliches Sofa, dessen Polster an einigen Stellen geflickt war.
Dienstmädchen und Lakaien kamen und gingen, ohne den drei Besuchern besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie trugen große Platten voller Delikatessen, Weinkrüge und Tabletts mit kristallenen Weinkelchen. Nirgendwo war Silber zu sehen. Sogar die Weinkrüge waren aus Gold. Die Diener verschwanden hinter einem dicken Vorhang, durch den Speranza fröhliche Stimmen, Gläserklingen und verschiedenste Sprachen hören konnte.
Die drei unterhielten sich nicht. Johnny stand an dem Durchlass und versuchte die Gespräche der Gäste drinnen zu belauschen; Freud konzentrierte sich auf einen weißen Puder, den er wie Schnupftabak durch die Nase inhalierte.
Dann hörte Speranza vereinzelten Applaus.
»Ah«, verkündete Freud, »Dr. Szymanowski ist gekommen.«
»Klatschen sie immer, wenn er kommt?«
»Er ist schließlich ihr Retter … der Gründer und Erhalter des Lykanthropenvereins … obwohl ich mir die Bemerkung gestatten möchte, dass auch von Bächl-Wölflings Vermögen nicht unerheblich dazu beiträgt … möchten Sie wirklich kein Kokain?«
In diesem Augenblick wurden die Vorhänge zurückgezogen, und ein Fremder stand im Durchlass.
Johnny Kindred knurrte. Er fiel wieder in seine Tierrolle zurück. »Johnny!«, ermahnte Speranza ihn scharf. Der Junge knurrte noch einmal, spannte sich an, als wollte er gleich springen -
Es war ein kleiner, gebeugter, fast kahler alter Mann. Dünne weiße Strähnen sprossen aus seinem Kinn. Rote, geplatzte Äderchen durchzogen seine Wangen. Er stützte sich auf einen Stock mit Elfenbeinknauf. Als er sprach, klang seine Stimme wie ein schwindsüchtiges Pfeifen.
Der Junge rannte auf ihn zu, doch er hob nur eine Hand, um ihn abzuwehren, und flüsterte auf Deutsch: »Sei still!« Obwohl seine Stimme kaum zu hören war, duldete sie keinen Widerspruch. Johnny trat zurück, senkte den Kopf und fasste Speranzas Hand.
»Der Junge versteht kein Deutsch«, erklärte Freud schnell.
»Dann werde ich sprechen Englisch«, antwortete Szymanowski auf Englisch. »Sie sind die Speranza Martinique. Hier ich habe Ihren Lohn.«
»Ich will kein Geld … ich muss darauf bestehen, bei dem
Kind zu bleiben, bis ich davon überzeugt bin, dass ihm hier kein Schaden zugefügt wird!«
Szymanowski dachte darüber nach. Dann wandte er sich an Freud und sagte leise etwas auf Deutsch zu ihm.
»Jawohl, Herr Professor«, antwortete Freud und verbeugte sich höflich. Dann wandte er sich an Speranza. »Vielleicht sehen wir uns vor Ihrer Abfahrt noch einmal. Aber im Augenblick braucht man mich an der Universität.« Er drehte sich um und stolzierte wieder ins Untergeschoss hinunter.
»Ihre Bedingung ist eine sehr unangenehme Situation für uns«, sagte Szymanowski und starrte Speranza an, als wäre sie eine Mikrobe unter dem Mikroskop. »Wenn Sie bleiben, dann werden Sie sehen viele Dinge, die Sie vielleicht werden verängstigen.«
»Ich fürchte mich nicht«, widersprach Speranza, obwohl sie sich keineswegs mutig fühlte.
»Der Graf wird zurückkommen bald. Er muss zurückkommen, bevor der Mond geht auf. Das ist nur noch eine Stunde von jetzt. Verstehen Sie meine Worte?«
Der Junge wimmerte und fauchte wieder. Sie roch einen Hauch von frischem Urin und begann zu zittern.
»Dann kommen Sie schnell. Sie werden wollen kennenlernen die anderen Gäste. Solange sie noch menschlicher Gestalt sind.«
Sie folgte ihm zu dem Durchlass. Sie lauschte dem Stimmengewirr, dem Gelächter, den Klängen eines Streichquartetts. Bildete sie es sich nur ein, oder klang das Lachen tatsächlich ein bisschen wie
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