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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Wolfsgeheul? Sie beugte sich zu Johnny hinunter, packte seine Hand fester und schritt dann in einen riesigen Ballsaal, der von glitzernden Kronleuchtern erhellt wurde. Sie sah Gäste in vornehmen Kleidern, Marmorstatuen, Einhorntapeten und Gemälde mit pastoralen Szenen. Und über allem lag der schwache, aber unverkennbare Geruch von Hundepisse.

11
    Black Hills
    Vollmond
     
    Nacht. Die alte Frau umarmte die Wölfin, mit der sie zusammen im Schutz einer Föhre lag. Sie hatte genug Holz für ein Feuer gesammelt, das schwache Wärme ausstrahlte. Sie hatte eine niedrige Schneemauer gebaut und sie festgestampft, um den Bergwind abzuhalten. Die Mauer und das Feuer halfen kaum gegen die Elemente, aber die alte Frau klagte nicht. Der Platz des Mondtanzes war noch eine Tagesreise entfernt. Der Mond wäre morgen immer noch voll genug für den Tanz, und bestimmt würden sich dort viele ihrer Art treffen, die von den Bergen im Norden und der Prärie im Süden kamen. Auch ich werde dort sein, dachte sie, wenn ich nur lang genug am Leben bleibe. Aber in ihrem Herzen glaubte sie nicht, dass sie den Mondtanz noch einmal erleben würde. Mein Herz ist blind geworden, dachte sie, erblindet im bitterkalten Schnee.
    Sie lehnte sich zurück, an ihre Schwester, aber deren Fell war durchnässt; sie breitete ihren schäbigen Büffelumhang über sie beide und sang ein Liedchen, ein Schlaflied des Todes. Und ihre Schwester heulte, denn der Mond schien durch die Zweige der berstenden Bäume. Die alte Frau wünschte, sie könnte sich noch mit diesem Mond verwandeln und zu den Vierfüßigen gehen. Dann hätte sie vielleicht einen warmen Pelz, nicht nur dünne Haut und schmerzende Knochen. Sie könnte das heiße Blut der kleinen Tiere hören, die durch den Schnee hasteten, ihr süßes Fleisch riechen und sie jagen. Ihre Schwester konnte das alles noch immer, aber sie war zu schwach zum Laufen. Sie hatten kaum etwas zu sich genommen, außer am Tag des schrecklichen Massakers, als sie und ihre Schwester sich am Fleisch ihrer niedergemetzelten Lakota-Brüder gelabt hatten und sie die kalten Essensreste aus den ausgebrannten Tipis gestohlen hatten.

    »Es war eine furchtbare Schlacht«, sagte sie. »Ich verstehe nicht, warum die Washichun das getan haben, Mitankala. Sie haben sogar die Toten entehrt …«
    Ihre Schwester gab ein Winseln als Antwort. Vielleicht hatte sich ihr Geist so tief in die Tierwelt zurückgezogen, dass sie die Menschensprache nicht mehr verstand.
    »Und trotzdem«, sinnierte die alte Frau, »war dort auch dieser junge Soldat, der uns gesehen hat … einmal, zweimal … ich glaube, er hat uns erkannt, hat unsere wahre Gestalt erblickt, trotz des Schnees und des Rauchs, der die Menschenaugen täuscht. Ich weiß, dass er einer von uns ist. Ich glaube, ich habe zu ihm gesprochen. Ich glaube, er hat geantwortet. Ist es möglich, dass es Washichun gibt, die nicht böse sind?«
    Ihre Schwester jaulte; es war ein herzzerreißender Laut.
    Das Feuer war im Schnee schnell niedergebrannt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Frauen und Kinder getötet waren. Die alte Frau und ihre Schwester hatten gegessen. In der Glut eines Feuers hatte ein Kessel mit gebratenem Hund und ein paar Streifen Dörrfleisch gestanden. Und ihre Schwester hatte den Leichnam eines Jungen gefunden, der sich unter den Toten versteckt hatte. Noch im Sterben hatte er versucht, einen der Soldaten zu skalpieren. Er war mutig gewesen und hatte es verdient, eins mit den Shungmanitu zu werden, und während ihre Schwester die Fleischfetzen hinunterschlang, hatte die alte Frau ein Siegeslied angestimmt, mit zittriger Stimme, die der Nachtwind verwehte.
    Aber sie hatten nicht gewartet, bis die Krieger von der Jagd heimkehrten. Sie wollten nicht noch mehr Schmerz sehen. Denn die Reise zum Mondtanz sollte eine Zeit der Freude sein, auch wenn es ihre letzte Reise, ihr Todestanz war. Deshalb waren die beiden weitergeeilt, an der Stadt der Weißen Menschen vorbei.
    »Hast du nicht das Lied der Wölfe gehört, als wir an den Häusern der Washichun vorbei sind? Und die Männer, die auf
ihren Pferden durch die Straßen jagten und ihre Donnerwaffen abfeuerten? Die Wölfe waren keine von uns. Es waren Wölfe, die sich nicht wandeln können. Die Brüder, die keine Brüder sind. Sie müssen am Verhungern sein, wenn sie sich bis in das Lager ihrer Feinde wagen.«
    Sie wartete auf eine Antwort der Wölfin. Aber obwohl ihre Schwester heulte, wieder heulte und den Mond durch das flackernde

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