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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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aufsah, als ich eintrat. Ich ging weiter. Niemand wollte Geld, also spazierte ich eine
Weile herum und betrachtete die verschiedenen Ausstellungsstücke.
    Es gab einige windschiefe Postkutschen, dazu einen Planwagen mit ein paar Pionieren aus Wachs, die mit ihren Wachsgesichtern in die Luft starrten. Ein paar Gegenstände waren auch in Vitrinen ausgestellt. Ich hatte keine Ahnung, dass sie damals schon Nähmaschinen besaßen, aber hier stand eine. Es gab Diagramme, Landkarten und vergrößerte Kopien aus Veröffentlichungen der damaligen Zeit. Auf einer großen Tafel wurde erklärt, wie die Passagiere früher in Council Bluffs aus dem Zug steigen und ihr gesamtes Gepäck über den Fluss schleppen mussten, bevor sie auf dem Nebraska-Ufer in die Union Pacific einsteigen konnten: Die konkurrierenden Eisenbahngesellschaften hielten damals nichts von Kooperation.
    Ein Stockwerk tiefer gab es einen Hof, in dem historische Züge ausgestellt waren. Einige waren restauriert worden, die anderen rosteten vor sich hin. Auch hier unten befand sich kein Mensch, so schlenderte ich allein die Bahnsteige auf und ab.
    Es wurde dunkel. Die Stille begann an meinen Nerven zu zerren. Wie auf einem Friedhof, dachte ich. Das Dämmerlicht glänzte auf den rostgefleckten Rädern, auf verstaubten Kuhfängern und auf Waggons mit abblätternder Farbe und verblichenen Goldaufschriften.
    Die Jahreszahl 1881 fiel mir ins Auge. Ich las sie auf einem Schild, das mir verriet, dass der Zug vor mir von einer Lokomotive namens Mogul gezogen wurde, die mit einem kleinen und drei großen Räderpaaren ausgestattet und in jenem Jahr in Dienst genommen worden war.
    Es war eine schöne Maschine: Der Kessel war grellrot lackiert (man hatte den Zug restauriert, sodass er fast wie neu aussah) und blau akzentuiert. Es waren mehrere Personenwagen angehängt, jeder ungefähr dreißig oder vierzig Fuß lang, außerdem ein paar Güterwagen und eine Kombüse. Ein Waggon
war von innen beleuchtet; ich sah die allgegenwärtigen Wachsfiguren darin sitzen. Ich beschloss hineinzugehen. Es war niemand da, der mich daran gehindert hätte.
    Ich lehnte mich ein paar Sekunden an das Geländer vor der Waggontüre, versuchte, mir vorzustellen, wie das Ding mit fünfundzwanzig Meilen in der Stunde durch Nebraska schnaufte und schaukelte. Dann trat ich in den Waggon. Vor den Fenstern hingen Samtvorhänge, und plumpe Lehnsessel waren über den Raum verteilt. In zweien, die einander gegenüberstanden, saßen Wachsfiguren: ein Gentleman mit Zylinder und Gehstock, der in der rechten Hand einen Royal Flush hielt; er erntete die missbilligenden Blicke einer Frau mit eng geschnürter Taille und einem Seidenkleid, das aus unzähligen Schichten zu bestehen schien. Sie trugen keine Handtaschen, diese Viktorianischen Frauen, dachte ich. Und dann diese geschnürten Taillen - deshalb konnten sie wichtige Dinge immer ins Dekolleté stecken - zwischen die Brüste -, ohne befürchten zu müssen, dass sie hinunterrutschen. Was für Kleider! Kein Wunder, dass sie so verklemmt waren.
    Kühner geworden, wagte ich mich tiefer in den Wagen hinein. Es gab einen Holzofen, ein Klavier, eine kleine Bar mit ein paar Stühlen und einer Flasche Whisky - oder braunem Wasser. An den Wänden hingen ein paar Plakate, die fruchtbares Farmland im Westen und eine Chance für jedermann versprachen.
    »So sehen wir uns wieder«, sagte eine Stimme.
    Ich erstarrte.
    Das Klavier begann zu spielen.
    Ich drehte mich um. Jemand irgendwo im Schatten, bei den Vorhängen. Draußen war es dunkel.
    Langes, schwarzes Haar. Ein Stirnband. Rote, glühende Augen -
    »Nein!« Er konnte es nicht sein. Er war tot. Etwa nicht? Oder irgendwohin verschwunden.

    Er trat aus dem Schatten, leise pfeifend. Stoppeln im Gesicht. Ich machte einen Schritt zurück.
    »Du glaubst, ich wäre tot, stimmt’s?«
    »Ich …«
    »Ich wette, du fragst dich, wo mein Schwanz ist, oder? Du denkst, hat dem Indianer nicht so ein Werwolf den Pimmel abgeknabbert?«
    »Preston, ich …«
    Er kam auf mich zu. Ich stand mit dem Rücken an der Wand. Er gab mir einen nicht gerade sanften Schlag auf die Wange. Seine Hand war hornhäutig. Jetzt roch ich ihn auch. Der schwache Duft von tierischem Urin stieg in meine Nase.
    »Du erweckst die Toten zum Leben, Carrie. Alle. In deinem Buch, meine ich. Speranza. Den Grafen. Claude-Achille Grumiaux. Inzwischen musst du begriffen haben, dass ich von ihm und seiner indianischen Frau abstamme. Ja, ich habe weißes Blut in mir.

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