Wolfsruf
dem Tier. Vielleicht kann ich ihn erlösen.
Und während er sie küsste, murmelte er, als würde er ihr zustimmen: »Meine Madonna der Wölfe …«
5
Deadwood
Auf den Anhöhen lag noch Schnee. Der Wind war manchmal noch bitterkalt. Aber die Sonne schien inzwischen jeden Tag, und ein leichter, frischer Duft lag in der Luft - ein Hauch von Frühling.
Als Scott Harper von Deadwood zurückkam, entdeckte er, dass er in der Zwischenzeit befördert worden war; auch sein Vorgesetzter, der Indianerhasser Sanderson, war eine Stufe auf der Karriereleiter aufgestiegen, als Auszeichnung für die Rolle, die er bei dem entsetzlichen Gemetzel gespielt hatte. Er war jetzt Major und Kommandeur in Fort Cassandra; aber Scott ahnte, dass das großzügige Gehalt und die Zuteilung von einem zweiten Adjutanten nur wenig dazu beitragen konnten, Sandersons Groll zu mildern.
Sein Skalp, der sorgfältig imprägniert worden war und nun unter Glas neben der Marmorbüste des verstorbenen Generals George Armstrong Custer einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch bekommen hatte, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass Major Sanderson nicht beabsichtigte, jenen blutigen Tag zu vergessen.
Während sie die Straße nach Deadwood entlangritten, erinnerte sich Scott an den Schock, den er bekommen hatte, als er zum ersten Mal nach seiner Rückkehr in Sandersons Stube gerufen worden war und den Skalp erblickt hatte, der so liebevoll präpariert und so wirkungsvoll platziert worden war. Er ritt an Zekes Seite. In Deadwood wurde heute ein großer Ball gegeben, und Sanderson war die Ehre zuteil geworden, die Feier zu eröffnen; er und Zeke sowie ein halbes Dutzend weitere Soldaten bildeten die Eskorte, die sich im Morgengrauen mit dem Major auf den Weg gemacht hatte. Die Amtseinführung von Präsident Garfield sollte gefeiert werden; Silas Snodgrass, Goldgräber und überzeugter Republikaner, hatte die St.-Ambrose-Kirche eigens für diesen Anlass gemietet.
Der Morgen war feucht; die neuen Blätter glänzten, und die Canyonwände schimmerten regennass. Der Weg bergauf war mühsam, und sie mussten immer wieder anhalten, um den Maultierkarren, mit dem ihre Ausgehuniformen transportiert wurden, aus dem Schlamm zu ziehen. Aber Scott freute sich auf den Abend. Das Leben im Fort war so öde wie zuvor. Er hatte
eine Kostprobe davon bekommen, was Sanderson unter Kampf verstand - dieses Massaker -, und er brauchte ganz bestimmt keine zweite. Den ganzen Winter über war es ruhig geblieben. Die Sioux hatten sich in ihr Schicksal gefügt und sich mit ihren madenverseuchten Fleischrationen begnügt. Aber Sanderson war noch verrückter geworden. Er ließ zu den unmöglichsten Tages- und Nachtstunden exerzieren - und manchmal sah man ihn an den Palisaden entlangspazieren, Xenophon und Wellington rezitierend. Scott vermutete, dass man ihm das in West Point beigebracht hatte.
»Captain Harper!«, ermahnte Sanderson ihn scharf. Der Major hatte den Hut abgesetzt, und das rosa Narbengewebe, das seinen Kopf wie eine obszöne Tonsur schmückte, leuchtete zu ihm herüber. »Sie träumen schon wieder, Mister!«
Er hielt an. Die anderen waren weit hinter ihnen. Sie zerrten schon wieder den Karren aus einem Schlammloch. Er musste im Nieselregen blinzeln. Dann wendete er das Pferd und ritt zurück. »Verzeihung, Sir.«
Sanderson musterte ihn eindringlich, suchte ganz offensichtlich nach einem Makel, für den er ihn tadeln könnte. Als er nichts entdeckte, ließ er ihn weiterreiten.
Scott träumte tatsächlich. Er fragte sich, ob die Russin wohl auf den Ball kommen würde. Er hatte Gerüchte gehört, dass sie eine neue Siedlung südlich von Deadwood gegründet hätte - in der Nähe des Ortes, wo sie die alte Indianerin und die Wölfin im Schnee gefunden hatten.
Er träumte oft von ihr. Im Camp gab es keine Frauen außer den Crow-Frauen, die dort zur allgemeinen Verfügung standen. Wenn die Männer Ausgang bekamen, kehrten sie oft im Green Door in Deadwood ein, doch Scott mochte nicht zu Huren gehen; sein Vater hatte ihn anständig erzogen, auch wenn sie seit Kriegsende nicht mehr besonders wohlhabend waren.
Aber mit der Russin war das etwas anderes.
Die Band stimmte sich ein - Violinen, Gitarren und die durchdringende, näselnde Stimme eines Sängers. »Wir hätten nicht kommen dürfen«, sagte Vishnevsky zu Natalia. »Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf dich. Es wissen schon zu viele Menschen von unserem kleinen Projekt …«
»Ruhig, Cousin. Wenn wir Snodgrass’
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