Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
entwickelt hatte und ihm selten von der Seite wich.
Wann immer Noah in seinem Gitterbettchen schlief, lag Oprah darunter. Schlummerte er irgendwo anders im Haus ein, wachte sie neben ihm, und sobald jemand das Zimmer betrat, stimmte sie ein Geschrei an, das einen Toten geweckt hätte, das Baby jedoch nicht zu stören schien. Oprah war die beste Alternative zu einem Wachhund, die Claire hätte finden können.
„Wo sind die Jungs?“, fragte ich.
„Sie schlafen noch, Gott sei Dank.“
Claire hatte Malachi Cartwright Anfang letzten Herbstes geheiratet. Ihr Sohn, Noah, war im Mai geboren worden, was bedeutete, dass Claire viel zu wenig Schlaf bekam. Zum Glück kümmerte Mal sich tagsüber um das Baby, sodass sie sich um Lake Bluff kümmern konnte.
Mal war eine Kuriosität hier, und das nicht nur, weil er die Rolle des Hausmannes übernommen hatte. Er war vergangenen Sommer mit seinem Zigeunertrupp in die Stadt gekommen, als Unterhaltungsprogramm während des Festivals. Nachdem sich eine ganze Reihe unheimlicher Geschehnisse abgespielt hatte, war er geblieben, während der Rest seiner Leute weitergezogen war.
Von Anfang an hätte man sich kein unwahrscheinlicheres Paar vorstellen können – die Bürgermeisterin und der Zigeuner-Pferdetrainer, die First Lady von Lake Bluff und die Hilfskraft. Ich könnte endlos fortfahren und Vergleiche anstellen, die direkt einem historischen Kitschroman entsprungen sein könnten. Doch die Wahrheit ist, dass es den beiden vorherbestimmt war, sich kennenzulernen und ineinander zu verlieben. Sie waren das glücklichste Paar, das mir je untergekommen war. Ich nehme an, Claire hat vergeben, wenn nicht gar vergessen, dass Malachi ursprünglich in die Stadt kam, um sie zu töten.
Claire stellte zwei Becher auf den Tisch, und wir setzten uns. „Was ist passiert?“, fragte sie.
Hastig berichtete ich ihr von letzter Nacht. Dem seltsamen flackernden Licht. Dem Feuer, das keines war. Dem Krater und dem Wolf.
„Nicht schon wieder“, murmelte sie.
„Ich bin nicht sicher, ob ich es tatsächlich gesehen habe. Als ich nach Spuren suchte, waren da keine.“
„Du hattest erwartet, nach einem Gewittersturm, wie wir ihn vergangene Nacht hatten, Spuren zu finden?“
Ich zuckte die Achseln. „Man kann nie wissen.“
„Hast du ein Heulen gehört?“
„Nein, nur Donner und Wind.“ Und das rhythmische Schlagen der gigantischen Flügel eines unsichtbaren Vogels. Ich beschloss, dieses Detail für mich zu behalten.
„Außerdem war da ein Mann. Er tauchte wie aus dem Nichts auf.“
„Du meinst, erst war er nicht da, dann plötzlich schon?“
„Keine Ahnung. Er kam aus dem Wald. Ich konnte sein Gesicht nicht klar erkennen, aber er war indianischer Abstammung. Eine Sekunde dachte ich … “ Ich machte eine Pause und durchforstete meine Erinnerung. „Meine Urgroßmutter hat mir früher die Geschichte eines Cherokee-Stammes erzählt, der sich in den Bergen versteckte, um dem Pfad der Tränen zu entgehen. Sie verbargen sich so gut, dass sie am Ende sowohl unsterblich als auch unsichtbar wurden.“
„Ich fürchte, du hast dir echt den Kopf gestoßen.“
Obwohl ich das Gleiche dachte, konnte ich es mir nicht verkneifen zurückzusticheln. Das gelang mir selten.
„Und das von einer Frau, die gesehen hat, wie sich Menschen in wilde Tiere verwandeln.“
Sie prostete mir mit ihrem Becher zu. „Der Punkt geht an dich.“
Ich stieß mir ihr an und trank einen Schluck. „Sobald ich wieder klar denken konnte, realisierte ich, dass ein Wolf zwischen diesen Bäumen verschwunden und kurz darauf ein Mann dort hervorgekommen war.“
„Hatte der Wolf menschliche Augen?“
Wir hatten letzten Sommer entdeckt, dass ein Werwolf einem echten Wolf in jeder Hinsicht ähnelt – bis auf die menschlichen Augen.
Ich versuchte, mir die Augen des Wolfes und die des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, aber es wollte mir nicht gelingen. Eigentlich sollte man meinen, dass ich mich an so etwas Bizarres wie die Augen eines Menschen im Gesicht eines Wolfs erinnern würde, aber da waren schließlich noch die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung …
„Ich weiß es nicht“, gestand ich. „Seit der Sache mit dem Airbag klaffen gewisse Lücken in meinen grauen Zellen.“
Sorge flackerte über ihr Gesicht. „Möchtest du ein Aspirin?“
„Nein, Mom, trotzdem danke.“
„Pass auf, was du sagst, sonst werde ich dich Noah nicht halten lassen, wenn er aufwacht.“
Ich hatte eine echte Schwäche für Noah
Weitere Kostenlose Bücher