Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
sollte jetzt besser gehen und dich schlafen lassen.“
„Ich schlafe nicht mehr viel, aber ich denke, ich werde mich trotzdem ein wenig ausruhen. Dieser Spaziergang war sehr kräftezehrend.“
„Vielleicht solltest du ein bisschen kürzertreten. Was, wenn du da draußen stürzt?“
„Dann stürze ich eben.“
„Und wenn du stürzt und dabei stirbst?“
„Lieber sterbe ich an die Erde geschmiegt, unter meinem Bruder, dem Mond, und hunderttausend nakwisis, als vor dem Licht der Sonne verborgen dahinzuwelken.“
„ Nakwisis “, wiederholte ich sanft. „Sterne.“
„Siehst du? Du erinnerst dich.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich mich wirklich erinnerte, oder ob ich es nur aus dem Kontext geschlossen hatte. Unabhängig davon gefiel es mir, was ich dabei empfand, das Wort erkannt zu haben. Als wäre ich mit meiner Vergangenheit verbunden und würde damit in eine strahlendere Zukunft blicken.
„Du passt doch gut auf ihre Papiere auf, nicht wahr?“, fragte Quatie.
„Natürlich.“ Sie waren unersetzlich – nicht nur wegen ihres emotionalen Werts, sondern auch wegen der alten Überlieferungen, die sie beinhalteten.
„Sie befinden sich an einem sicheren Ort?“
„Absolut.“
Ich dachte an das Geheimfach in der rechten Schublade im Schreibtisch meines Vaters – über dessen Existenz mich nach seinem Tod sein Anwalt in Kenntnis gesetzt hatte. In ihm hatte ich all die Fotos meiner Mutter, die kurz nach ihrer Flucht verschwunden waren, wiedergefunden. Jetzt waren diese Fotos in meinem Schlafzimmer und die Aufzeichnungen meiner Urgroßmutter an ihrer Stelle in der Schublade.
„Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen“, versprach ich. „Soll ich dir irgendetwas mitbringen?“
„Ich habe gehört, dass ein neuer Arzt in der Stadt ist.“
Überrascht zog ich die Brauen hoch. Die Reichweite unserer Mund-zu-Mund-Propaganda verblüffte mich immer wieder. Gleichzeitig linderte sie mein schlechtes Gewissen ein klein wenig. Wenn Quatie diese Neuigkeit so schnell erfahren hatte, bedeutete das nicht nur, dass sie noch mit anderen Stadtbewohnern außer mir in Kontakt stand, sondern auch, dass ich ebenso schnell alarmiert würde, falls hier oben der Ernstfall eintreten sollte.
„Ja, es gibt einen neuen Arzt“, bestätigte ich.
„Ist er in den traditionellen Heilmethoden bewandert?“
„Zumindest behauptet er das.“
„Ich würde ihn gern kennenlernen.“
„Bist du denn krank?“
Quatie blickte schmunzelnd auf. „Kind, ich bin alt .“
„Du warst doch noch nie bei einem Arzt.“ Jedenfalls meines Wissens nicht.
„Rose hat sich um mich gekümmert. Ihre Arzneien waren alles, was ich brauchte. Aber seit sie von uns gegangen ist, muss ich zusehen, wie ich zurechtkomme. Ich würde gern hören, was dieser junge Mann zu sagen hat.“
„Das lässt sich bestimmt einrichten. Ich werde ihn bei meinem nächsten Besuch mitbringen.“
Quatie Augen begannen zu leuchten. „Er wird zu mir kommen?“
„Selbstverständlich.“ Auf gar keinen Fall würde Ian einer arthritischen alten Dame zumuten, ihn in seiner Praxis aufzusuchen. Ich kannte ihn nicht gut, aber so viel wusste ich.
„Das wäre wundervoll. Vielen Dank.“
„Kein Problem.“ Quatie bewegte sich auf ihrem Stuhl und verzog gequält den Mund. „Kommst du auch ganz bestimmt zurecht? “ , vergewisserte ich mich.
„Mach dir um mich keine Sorgen, Gracie. Außerdem kommt mich meine Ururenkelin bald besuchen.“
„Wirklich? Wann denn?“
Sie sah aus dem Fenster. „Schwer zu sagen.“
Mich beschlich der Verdacht, dass es gar keine Ururenkelin gab, oder zumindest keine, die zu Besuch kommen würde. Quatie wollte mir nur nicht zur Last fallen.
Ich würde in ein paar Tagen mit Ian zurückkehren. Wer weiß? Vielleicht würde das genügen, um meine Urgroßmutter im Land der Dämmerung und von meiner Veranda fernzuhalten.
13
Ich erreichte mein Haus ohne weitere Zwischenfälle. Keine Wölfin in den Wäldern. Keine Fledermäuse auf dem Dachboden. Keine Nachrichten in meiner Mailbox. Eine gute Nacht.
Dennoch schlief ich schlecht – meine Träume kreisten um Ian Walkers Körper, der mit meinem verschlungen war, um Wölfe, die irgendwo in der Dunkelheit heulten, und die Wälder, die mir auf Cherokee etwas zuraunten, das ich fast, aber nicht ganz verstehen konnte.
Das Kreischen eines Schwimmvogels riss mich in der Morgendämmerung aus dem Schlaf. Ich setzte mich kerzengerade auf und presste die Hände vor die Brust; mein Atem ging so schnell
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