Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
werden, die Schwelle zu überschreiten.
„Oookay.“
Ich hatte belauscht, wie Ian sagte, dass niemand auf die Feder reagiert habe. Das hatte mich zu der Schlussfolgerung geführt, dass er nach einer Hexe suchte und ich nicht die Einzige war, die er in Verdacht hatte.
Mir klopfte das Herz bis zum Hals, wenn auch nicht vor Angst, so doch vor Aufregung. Bislang hatte ich in einer Sackgasse gesteckt. Ich hatte mir den Kopf zerbrochen, wo ich Antworten bekommen könnte, und jetzt purzelten sie mir praktisch in den Schoß. Trotzdem wusste ich noch immer nicht, wie eigentlich die Frage lautete.
Das Internet hatte mir zuvor nicht weitergeholfen, weil ich nicht genügend Informationen gehabt hatte. Jetzt kannte ich einen Namen.
„ Kalanu Ahyeli’-ski “, murmelte ich, während ich ihn eintippte und schwungvoll die Enter -Taste drückte.
Unter allen Hexen der Cherokee ist die Kalanu Ahyeli’-ski, auch Rabenspötterin genannt, die am meisten gefürchtete.
„Das könnte außerdem den plötzlichen Zuwachs an Raben erklären.“ Ich runzelte die Stirn. „Theoretisch.“
Die Rabenspötterin raubt den Sterbenden das Leben. Die Hexe fliegt mit ausgebreiteten Armen und einen Funkenschweif hinter sich herziehend durch die Nacht, bevor sie mit einem grässlichen Kreischen ihre Ankunft verkündet.
Die Rabenspötterin vertilgt das Herz ihres Opfers und stiehlt die Tage, die dem Menschen noch auf Erden vergönnt gewesen wären. Da die Rabenspötterin eine Hexe ist, ist sie fähig, das Herz zu nehmen, ohne eine Wunde zu hinterlassen.
Hm, damit hatte sich zumindest die Theorie bezüglich einer Invasion Außerirdischer erledigt. Worüber ich alles andere als unglücklich war.
Jetzt wusste ich halbwegs, womit wir es zu tun hatten. Zwar hatte ich noch immer nicht die leiseste Vorstellung, wie diese Kreatur aussah, wie sie vorging oder wie man sie tötete, aber es gab da jemanden, der mir eventuell weiterhelfen konnte.
Da die Tür zur Praxis noch immer ein Stück offen stand, trat ich ohne zu klopfen ein. Aus purer Neugier sah ich nach oben. Sowohl über der Vorder- als auch der Hintertür war eine Bussardfeder angebracht worden. Wohl um kein Risiko einzugehen, hatte Ian vorsorglich auch eine über jedes Fenster gehängt.
Da ich bereits eingebrochen war, zog ich die Schuhe aus, schlich die Treppe hinauf und bewegte mich auf das einzige Zimmer zu, in dem noch Licht brannte. Es war niemand darin.
Ich sah mich um. Schreibtisch, Bücher, Papiere – Ians Büro, nicht sein Schlafzimmer. Vermutlich war er zu Bett gegangen und hatte vergessen, das Licht auszuschalten. Bevor ich ihn weckte, um ihn gnadenlos auszufragen, inspizierte ich das Zimmer genauer.
Das Thema Durchsuchungsbefehl hatte ich mittlerweile abgehakt. Kein Gericht der Welt würde mir diese Geschichte abkaufen.
Medizinische Abhandlungen. Arztzeitschriften. Winzige Fläschchen Öl. Farbige Flüssigkeiten. Schalen voller Kräuter. Eine Tasche gefüllt mit etwas, das Gras zu sein schien. Ich öffnete sie, schnupperte daran, entschied, dass es die Art war, die Kühe fraßen, und stellte sie wieder ab.
Ich ging zum Schreibtisch, auf dem mehrere lose Blätter lagen. Die Worte waren in der Schrift der Cherokee verfasst. Ich konnte sie nicht entziffern, trotzdem kamen sie mir vage bekannt vor.
Ohne zu wissen, warum – im Haus war es noch genauso still wie bei meinem Eindringen – , warf ich einen flüchtigen Blick über meine Schulter.
Ian stand direkt hinter mir.
Mit einem erschrockenen Japsen taumelte ich nach hinten, dabei stolperte ich über einen Bücherstapel, der neben dem Schreibtisch aufragte.
Mit der Geschmeidigkeit einer Schlange streckte Ian die Hände aus, packte meine Unterarme und zog mich an sich. Seine Augen fingen das goldene Licht der Lampe ein, bis sie wie Topase funkelten, während sich seine Pupillen so stark weiteten, dass sie fast die hellere Tönung seiner Iriden verdeckten.
„Was tust du hier?“
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, vielleicht auch, um ihn zu verhören, aber er küsste mich. Das schien bei ihm fast ein Reflex zu sein.
Ich schmeckte Verzweiflung auf seiner Zunge, Lust, Verlangen, Begierde auf seinen Lippen. Mein Körper reagierte erwartungsgemäß; ich konnte es nicht verhindern. Auch ich empfand all das, obwohl ich es vom Verstand her besser wissen musste.
Nur dass mein Verstand offensichtlich zurzeit verreist war. Ich fühlte eine vage Irritation, aber Ians leidenschaftlicher Kuss verhinderte, dass ich ihr genauer
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