Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
Bill ein.
„Bleiben Sie bei ihm“, befahl ich und eilte die Treppe hinauf, bevor er Einwände erheben konnte.
Merry lag auf dem Bett. Wäre da nicht ihr Gesichtsausdruck gewesen, ich hätte geglaubt, sie schliefe. Ihr Körper wirkte entspannt, und sie hatte die Hände über ihrem eingesunkenen Bauch gefaltet. Doch ihre Augen waren weit aufgerissen, der Mund zu einer Grimasse des Entsetzens verzerrt.
Ich zog das Laken über ihren Kopf und ging wieder nach unten, wo ich Doc Bill mit einem Nicken bedeutete, zu mir in den Flur zu kommen. Ted starrte noch immer mit bebenden Schultern aus dem Fenster.
„Genau wie bei den anderen“, begann ich. „Ihr Gesicht, das Kreischen, bevor sie starb. Nur dass sie Ted zufolge in der Genesung begriffen war.“
„Sie lag nicht im Sterben?“
„Zumindest nicht heute.“
„Ich habe ihn informiert, dass ich eine Autopsie vornehmen muss“, sagte Doc Bill. Ich verkniff mir einen unangebrachten Freudenschrei, weil mir diese Aufgabe jetzt erspart blieb. „Er war einverstanden. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen. Vielleicht besteht überhaupt kein Zusammenhang.“
„Vielleicht“, stimmte ich zu, aber ich glaubte es nicht.
Ich rief Teds Schwester an und bat sie, zu kommen und ihm Gesellschaft zu leisten, dann überließ ich es dem Doc, sich um Merry zu kümmern. Ich ließ den Wagen stehen und spazierte zu Fuß den Hügel hinunter zur Center Street und weiter zu Ian Walkers Haus.
Mit Ausnahme eines schwachen Lichtscheins im ersten Stock war das Gebäude dunkel. Ich klopfte so laut an die Hintertür, dass ich die ganze Straße geweckt hätte, wären in den umliegenden Häusern nicht ausnahmslos Geschäfte untergebracht gewesen. Walker war der Einzige, den ich kannte, der über seinem Arbeitsplatz wohnte.
Er öffnete die Tür und lächelte. „Ich bin so froh, dass du … “
Ich versetzte ihm mit der Handfläche einen heftigen Schubs gegen die Brust. Er taumelte mehrere Schritte nach hinten, ich trat ein und kickte die Tür zu. „Was hast du ihr gegeben?“
Er rieb sich sein Sternum. „Wem?“
„Merry Grey.“
„Wir hatten diese Unterhaltung bereits, Sheriff. Ich werde es dir nicht sagen.“
Meine Schritte hallten laut auf dem Holzboden wider, als ich drohend auf ihn zuging. Ian rührte sich nicht vom Fleck. Er reckte trotzig das Kinn vor, und das silberne Mondlicht, das durch die Fenster fiel, wurde von seinen Wangen und seiner Nase reflektiert; es glitzerte in seinen dunklen Haaren und spielte Hasch-mich mit seiner Adlerfeder.
Wie kam es bloß, dass er bei Nacht wie ein Krieger aussah und bei Tag wie ein ganz normaler Mann? Ohne die Feder würde ihn zwischen neun und fünf niemand für einen Cherokee halten. Nach Mitternacht konnte man ihn für nichts anderes halten.
„Du denkst, du kannst es mit mir aufnehmen?“, fragte er.
Ich rückte ihm auf die Pelle, bis die Spitzen meiner Sandalen seine nackten Füße berührten. Er hatte sein Jackett und die Krawatte abgelegt, die Kragenknöpfe geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt. Seine Haut schimmerte im Dämmerlicht. Es mit ihm aufzunehmen, bekam eine völlig neue Bedeutung, eine, die ich liebend gern ergründet hätte – bis im Mondlicht sein Ehering aufblitzte.
„Ich muss es nicht mit dir aufnehmen können“, entgegnete ich kalt. „Ich kann mir einen Durchsuchungsbefehl besorgen.“
„Viel Glück dabei.“
Er machte mich rasend, ich hätte schreien mögen.
Ich holte ein paarmal tief Luft, bevor ich es mit einer neuen Taktik probierte. „Wozu die Geheimniskrämerei? Sie hat sich dank dir erholt. Man sollte meinen, dass du gern jeden wissen lassen würdest, was für ein fabelhafter Arzt du bist.“
„Sie hat sich erholt?“ Er zog die Stirn kraus. „Tatsächlich?“
„Du scheinst überrascht zu sein.“
„Das bin ich. Was ich ihr gab … “ Ich spitzte die Ohren, aber Ian machte im letzten Moment einen Rückzieher. „Es freut mich, dass es ihr besser geht, nur ist das leider nicht mein Verdienst.“
„Es geht ihr nicht besser. Sie ist tot.“
„Aber du hast doch eben gesagt … “
„Tja, die Dinge ändern sich manchmal schnell bei uns.“ Ich ging zur Tür. Er würde keine Hilfe sein, und wenn ich bliebe, liefe ich nur Gefahr, mich in seine Arme werfen zu wollen, was meinen Zorn auf mich und auf ihn noch verschlimmern würde.
Ich knallte die Tür hinter mir zu, dann blieb ich eine Weile in dem silbrigen Mondlicht stehen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Ich war
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