Wolfstage (German Edition)
und zu Boden stürzte.
Seibert packte ihn und riss ihn hoch. Tibor hob die Arme, um einen weiteren
Schlag abzuwehren. Seibert stolperte, als er ihm auswich, und Tibor hüpfte
weiter.
Plötzlich hatte er das Ende des Stegs erreicht. Ohne einen weiteren
Gedanken stürzte er sich ins Wasser. Es war zwar lange her, aber er war mal ein
ausdauernder Schwimmer und Taucher gewesen.
14
Reinders klang so vergnügt, dass es in ihren Ohren
schmerzte. Johanna brauchte einen Moment, um richtig wach zu werden, einen zweiten,
um zu registrieren, dass es auf zehn Uhr morgens zuging und sie noch im Bett
lag, und einen dritten, bis sich die Erinnerungen an die vergangene Nacht
einstellten. Sie wechselte das Handy ans andere Ohr.
»Was für ein toller Erfolg!«, tönte Reinders erneut ins Telefon. »Schuster
hat gerade ausführlich berichtet. Der platzt gleich vor Stolz, und zwar mit
Recht!«
»Ja, danke«, nuschelte Johanna und richtete sich auf. »Ich sage es
ungern, aber Tibor Kranz hat sein Leben zu einem großen Teil der Funke, ihrer
Hartnäckigkeit und ihrem Hund zu verdanken – und einem aufmerksamen
Nachbarn, der sich gut mit Autos auskennt. Als wir nach der nächtlichen
Unterredung mit Erika Seibert an dem Wochenendhaus am Tankumsee eintrafen, war
es kein Problem, ihren Mann festzunehmen, aber Tibor war verschwunden, und
Volker Seibert war nicht bereit, uns irgendeinen Hinweis zu geben. Was soll ich
sagen – Flow hat ihn aufgespürt …«
»Flow?«
»So heißt der Hund.«
»Ach so. Sie entdecken also doch noch Ihr Herz für Tiere?«
Nicht auszuschließen, dachte Johanna. Der Fotograf hatte bewusstlos,
aber lebend im Schilf gelegen, als Emilies Hund ihn fand. Auf dem Weg ins
Krankenhaus hatte er eine erste Aussage machen können, und die
Kriminaltechniker nahmen wahrscheinlich bereits seit Stunden Seiberts
Wochenendhaus auseinander.
»Hat man schon was gefunden?«, fragte Johanna, während sie
überlegte, ob es wohl angemessen war, sich zur Feier des Tages ein Frühstück im
Bett zu gönnen. Andererseits wartete noch genug Arbeit auf sie. Sie warf die
Decke beiseite und schob die Beine aus dem Bett.
»Ja, unter den Steinplatten des Carports lag tatsächlich ein
Skelett. Es ist schon auf dem Weg nach Hannover.« Reinders räusperte sich. »Ihr
Freund Pockly kann es kaum erwarten, schon wieder Arbeit von Ihnen zu
bekommen.«
»Die Karriere in der Autostadt dürfte sich für Seibert wohl erledigt
haben«, vermutete Johanna.
»Für den dürfte sich so einiges erledigt haben. Apropos erledigt.
Ich war heute Nacht auch nicht untätig«, fuhr Reinders fort, bevor Johanna
vorschlagen konnte, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Sie
spürte ein menschliches Bedürfnis, das von Sekunde zu Sekunde dringender wurde
und nicht mehr lange aufzuschieben war.
»Die Drogengeschichte? Hatten Sie Erfolg?«, fragte sie dennoch
höflich nach.
»Und ob. Wir haben drei Leute gefasst, auf die wir schon seit Langem
ein Auge geworfen hatten. Dabei sind uns kiloweise Koks und Heroin in die Hände
gefallen.«
»Gratuliere! Hören Sie, Reinders –«
»Aber das ist noch nicht alles gewesen.«
»Ach?« Sie stand langsam auf und trampelte von einem Bein aufs
andere.
»Einer der Hauptakteure will einen Deal mit der Staatsanwaltschaft«,
berichtete Reinders weiter.
»Würde ich an seiner Stelle auch wollen. Kollege, wir könnten das
Gespräch –«
»Ich bin geneigt, ihn ernst zu nehmen«, unterbrach der Wolfsburger
Kripochef sie erneut.
Meine Güte, beeil dich mit deinen Neuigkeiten, es schmeckt schon
bitter, wie meine Mutter immer zu sagen pflegt, dachte Johanna und seufzte
vernehmlich. Sie ging in Richtung Bad.
»Der Typ heißt Robin Ziegler.«
»Wie schön für ihn.«
»Nicht wahr? Ach, übrigens: Er hat den Pfeil in den Briefkasten der
Buchhandlung in Königslutter geworfen, und er wird uns auch erzählen, warum.«
Johanna konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so
perplex gewesen war.
»Sind Sie noch dran, Kollegin?«
»Wann kann ich ihn vernehmen?«
»Machen Sie sich auf den Weg. Annegret Kuhl weiß schon Bescheid.«
Ziegler war ein kleiner, dürrer und ungepflegter Kerl mit
einem Frettchengesicht, dem man ungern die Hand gab. Nach dem Zugeständnis, mit
einer vergleichsweise milden Strafe wegen Drogenhandels wegzukommen, und einer
Stunde Vernehmung hatte er nicht nur sein Versteck im Velpker Steinbruch und
die dortigen Geschehnisse mit zittriger Stimme in all ihren
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