Wolfstage (German Edition)
Wenn wir Glück haben, hat sich der
Polizeieinsatz in Velpke noch gar nicht herumgesprochen. Wir holen uns die
Typen erst, wenn die Anwaltskanzleien bereits Feierabend haben und erste
zitierbare Ergebnisse der Kriminaltechnik vorliegen. Vielleicht ist die
Überraschung groß genug, dass ich denen ein paar unbedachte Sätze entlocken
kann, zumindest Bischoff, Hildmann und Mansloh. Richard Peters ist eine andere
Preisklasse, aber wir werden sehen, ob er weiterhin souverän bleibt.«
Schuster lächelte. »Gute Idee.«
»Finde ich auch. Ansonsten brauche ich noch ein paar Minuten Ruhe,
dann sortiere ich die Bilddateien und die bisherigen Fakten, bevor ich mich auf
den Weg zu den Lindners mache. Falls Pockly zwischendurch –«
»Ich weiß Bescheid«, sagte Schuster rasch und drehte sich zur Tür
um. »Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
»Ach, noch was, Schuster: Gibt es schon Nachricht von Tibor Kranz?
Weiß man, wie es ihm geht?«
Schuster kratzte sich am Hinterkopf. »Darum habe ich mich bislang
noch nicht kümmern können. Soll ich Nabold oder –?«
»Nee, lassen Sie mal. Ich rufe selbst dort an.«
Johanna war sich darüber im Klaren, dass sie jede Gelegenheit nutzte,
um die Begegnung mit Katis Eltern hinauszuzögern, aber als sie ein paar Minuten
später von Tibor erfuhr, dass die E-Mail, die Milan Hildmann wenige Stunden vor
seinem Tod an Volker Seibert geschickt hatte, brisanten Inhalts gewesen sein
muss, gratulierte sie sich zu ihrer Entscheidung. Sie setzte sich sofort mit
Erika Seibert in Verbindung und schilderte ihr die Situation.
»Ich weiß, dass Sie jetzt andere Sorgen haben«, meinte Johanna
schließlich. »Aber für die Aufklärung der Todesumstände wäre es sehr hilfreich –«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, unterbrach die Architektin sie. Ihre
Stimme klang fast so, wie Johanna sie bisher erlebt hatte – kühl und
zurückhaltend –, aber es schwang noch eine andere Note mit. »Volker hat
mehrere E-Mail-Accounts«, fuhr sie fort. »Auf das Allerwelts-Familienkonto habe
ich Zugriff, auf die anderen nicht. Natürlich nicht.« Sie schob ein Räuspern
hinterher. »Es ist gut möglich, dass Milan ihm die Mail an unsere gemeinsame
Adresse geschickt hat. Ich sehe nach und leite sie an Sie weiter.«
»Das wäre ausgesprochen hilfreich«, entgegnete Johanna und nannte
Seibert ihre Mailadresse. »Vielen Dank im Voraus.«
»Keine Ursache.« Sie zögerte einen Moment. »Wissen Sie, wie es Tibor
geht?«
»Ja, ich habe vorhin mit ihm telefoniert. Er befindet sich auf dem
Weg der Besserung.«
Schweigen, dann ein Klick in der Leitung. Sie hatte einfach
aufgelegt. Johanna konnte es ihr nicht verdenken.
Es herrschte Hochbetrieb im Dom-Café, wie an einem späten
Sommernachmittag nicht anders zu erwarten. Das Ehepaar Lindner und mehrere
Angestellte hatten alle Hände voll zu tun. Es duftete köstlich. Lachen und
Stimmengewirr. Johanna blieb tief durchatmend in der Tür stehen, bis Robert
Lindner den Kopf wandte und sie ansah. Er erstarrte für einen elend langen
Augenblick. Dann kam er auf sie zu.
Johanna spürte, dass ihr Gaumen ausgetrocknet war, und fragte sich
wohl zum unzähligsten Mal, welche Aufgabe schlimmer war: den Tatort nach einem
grauenvollen Mord besichtigen oder die Angehörigen eines Opfers benachrichtigen
zu müssen. Sie kam zu keinem Ergebnis.
Als Lindner vor ihr stand und innerhalb von Sekunden um zehn Jahre
zu altern schien, schwor sie sich und ihm im Stillen, dass die Schuldigen dafür
zur Rechenschaft gezogen werden würden – so weit es in ihrer Kraft stand.
Colin verschränkte die Arme vor der Brust. Er trug ein
knallrotes Piratentuch mit schwarzen Tupfen, das aber nicht darüber
hinwegtäuschen konnte, dass er mitgenommen aussah.
»Die Bude in Velpke ist ein richtiger Fundus«, sagte er. »Wir haben
Katis Rad gefunden, außerdem Schlüssel und mehrere Handys – wir kriegen
sofort Bescheid, wenn klar ist, wem –«
»Laptop?«
»Bislang nicht. Dann natürlich Pfeile, Bögen, Armbrüste und unzählige
Spuren.«
»Gibt es Hinweise darauf, dass dort noch andere Morde geschehen sein
könnten?«
Colin schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht.«
»Hoffentlich nicht.«
Johanna hatte eine halbe Stunde, bevor sie nach Wolfsburg
aufgebrochen war, mit Pockly gesprochen, der nicht mit Details gegeizt und
eingehend geschildert hatte, was Kati in den Stunden und Tagen vor ihrem Tod
widerfahren war. Prügel, Vergewaltigung, Folter. Immerhin hatten ihre Mörder
dabei zahlreiche
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