Wolfstage (German Edition)
das Gefühl, dass sie unüberwindbar
waren, oder nicht zu entwinden, jedenfalls nicht in der Lage, in der er sich befand.
»Ja«, sagte Tibor schließlich bedächtig. »Man kann sich derart
täuschen. Sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.«
»Und warum liegen wir immer wieder so falsch?«
»Weil wir uns nur mit dem befassen, was wir sehen wollen.«
»Spricht da der Fotograf?«
»Der auch, natürlich.«
Seibert nickte. »Egal. Nach dieser Geschichte habe ich es jedenfalls
nicht mehr für nötig befunden, Erika gegenüber mit meinen Seitensprüngen
diskret zu sein. Ich weiß, dass sie sich darüber ärgert, aber
bezeichnenderweise äußert sie sich nie.«
»Ahnte sie denn nicht zumindest, dass Sie von der Affäre mit Steffen
etwas mitbekommen hatten?«
Seibert schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatte nicht den blassesten
Schimmer und hat ihn immer noch nicht. Eigentlich eine Unverschämtheit, mir so
viel Blindheit zu unterstellen. Sie hat mir die ganze Geschichte gebeichtet –
jetzt, nachdem du aufgetaucht bist und überall nach Steffen geforscht hast. Sie
befürchtet eine neuerliche Erpressung und ging tatsächlich davon aus, mir in
jeder Hinsicht Neues zu erzählen. Eine bizarre Situation. Andererseits muss ich
aber natürlich auch dankbar sein, dass sie sich mir anvertraute – sonst
hätte ich nicht rechtzeitig von dir erfahren.« Er lächelte breit.
***
Als Erstes sah sie die gelb glühenden Augen des Hundes,
dann die Journalistin, die neben ihrem Rad stehend vor dem Haus der Seiberts im
Ortsteil Rottorf wartete. Johanna stellte den Wagen ab und stieg aus. Sie gab
es ungern zu, aber der Fotograf hatte recht gehabt: Dieser Hund war etwas
Besonderes. Flow musterte sie mit beiläufigem Blick und blieb mit gespitzten
Ohren neben Emilie Funke sitzen. Nichts schien seiner Aufmerksamkeit zu
entgehen.
Die nächtliche Stille wurde nur durch Grillenzirpen und weit
entferntes leises Lachen unterbrochen. Irgendwo saßen Leute auf der Terrasse
und genossen die laue Sommernacht. Johanna gab der Journalistin die Hand.
»Frau Seibert geht nicht ans Telefon«, bemerkte sie leise. »Ich werde
Sie herausklingeln. Falls Ihre Vermutung sich als Luftnummer entpuppen sollte,
dürfen Sie sich entschuldigen. Bei ihr und bei mir.«
Funke nickte. »Mach ich.«
Johanna wandte sich zur Tür. »Warten Sie bitte.«
Es dauerte zwei Minuten, bis im Haus das Licht anging. Dann meldete
sich Erika Seibert über die Gegensprechanlage.
»Guten Abend, hier ist Kommissarin Johanna Krass, bitte
entschuldigen Sie die nächtliche Störung. Es ist wirklich dringend.«
»Das hoffe ich. Was wollen Sie?«
»Ich muss Sie sprechen.«
»Worum geht es?«
»Sie fahren einen Touareg, nicht wahr?«
»Wie bitte?«
»Ja oder nein?«
»Ja.«
»Wo ist der Wagen?«
»Hören Sie …«
»Beantworten Sie bitte die Frage!«
»Mein Mann hat ihn heute beziehungsweise gestern genommen. Das macht
er manchmal.«
»Ist Ihr Mann inzwischen zurück oder hat er sich gemeldet?«
Kurzes Schweigen. »Nein. Manchmal übernachtet er in Wolfsburg oder
in …«
»Frau Seibert, kennt Ihr Mann Tibor Kranz?«
Stille. Dann ertönte der Türsummer.
***
»Wie sind Sie Steffen mit der Erpressung überhaupt auf die
Schliche gekommen?«, warf Tibor den nächsten Gesprächsfaden aus, so beiläufig
wie möglich. Er tastete mit den Fingern die Knoten ab.
Seibert stand auf und holte sich ebenfalls ein Glas Wasser. Genüsslich
leerte er es bis zur Hälfte.
»Wie häufig bei solchen Geschichten: Es kam eins zum anderen. Als
ich in Erfahrung gebracht hatte, dass meine Frau sich mit diesem Fatzke
eingelassen hatte, rechnete ich, wie schon gesagt, damit, dass die Sache bald
beendet sein würde. Aber das war nicht der Fall, und so blieb ich hellhörig.
Dabei fiel mir auch auf, dass Moritz noch unzugänglicher war, als ich es
ohnehin schon von ihm kannte. Dann folgte Erikas plötzlicher Stimmungsabsturz,
den ich mir mit der kurz davor erfolgten Trennung von dem jungen Mann erklärte.
Was mir merkwürdig vorkam, war die Tatsache, dass zugleich Geld fehlte, viel
Geld. Erika hat zwar ein eigenes Depot, über das sie frei verfügen kann, aber
natürlich weiß ich immer ungefähr, wie viel sie ausgibt und wofür.«
Seibert nickte bestätigend. »Ich überlasse nichts gern dem Zufall,
darum sehe ich mich auch in regelmäßigen Abständen gründlich im Haus um –
in allen Zimmern, versteht sich. Wenig später fand ich im Zuge einer solchen
Inspizierungstour bei Moritz
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