Wolfstage (German Edition)
inne und durchstöberte dann die Liste mit den
Reitlehrern. Steffen Winter war nicht darunter. Der Stich der Enttäuschung war
überraschend heftig. Er blickte hoch, als die Tür geöffnet wurde. Eine Frau um
die vierzig trat ein. Sie war schmal und auffallend blass, und sie kam ihm
irgendwie bekannt vor. Als hätte sie seinen Gedanken mitbekommen, wandte sie
den Kopf und sah ihn forschend an. Sie stutzte, bevor sie langsam näher kam.
»Tibor?«
Tibor erschrak. Er hatte Mühe, Emilie wiederzuerkennen. Emilie
Funke. Sie waren gleichaltrig, aber Emilie sah deutlich älter aus als
achtunddreißig, und dass sie attraktiv und jung gewesen war, schien lange her
zu sein. Er erinnerte sich an eine schlanke, schwarzhaarige Frau mit jadegrünen
Augen, die schlagfertig gewesen war und Temperament für zwei gehabt hatte. Die
letzten Jahre waren wohl alles andere als gnädig mit ihr umgegangen: Ihr
Gesicht trug den Stempel des Kummers.
Scheiße, dachte Tibor. Da muss irgendwas verdammt schiefgelaufen
sein. Er räusperte sich und stand auf, bemüht, seinen Schreck zu kaschieren.
»Emilie – was für eine Überraschung! Setz dich doch zu mir. Trinken
wir einen Kaffee zusammen?«
»Ja, gerne.« Sie nahm ihm gegenüber Platz und musterte ihn
ungeniert. »Du siehst ja richtig klasse aus«, bemerkte sie und lächelte seltsam
traurig. »Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«
»Vor ziemlich genau zehn Jahren. Mein Vater lag im Sterben – dachten
wir jedenfalls, denn er hat sich wieder erholt. Ich habe damals ein paar Wochen
hier verbracht, das erste Mal nach der Schulzeit.«
Emilie nickte. »Ja, ich erinnere mich. Du hast dich nur wenig verändert –
ich meine: äußerlich. Geht es dir gut?«
Ja, dachte Tibor, aber es hörte sich bestimmt merkwürdig an, wenn er
die Frage bejahte und im nächsten Atemzug erzählte, dass seine Mutter gerade
gestorben war.
»Im Grunde schon. Ich bin immer noch in meinem Traumjob als Fotograf
unterwegs, der es mir so ganz nebenbei ermöglicht, die ganze Welt zu bereisen.
Was will ich mehr?« Er sah hoch und winkte dem Kellner.
»Bringen Sie uns bitte zwei Kaffee? Oder lieber einen Espresso?«,
wandte er sich an Emilie.
»Der Latte macchiato ist hier ziemlich gut.«
»Okay, dann nehmen wir den.« Tibor nickte dem Kellner zu.
»Und – wie geht es deinen Eltern?«, setzte Emilie das Gespräch
fort.
»Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben, meine Mutter erst
kürzlich.«
Emilie legte eine Hand auf den Mund. »Ach, du liebe Güte! Tut mir
leid, das habe ich gar nicht mitbekommen.«
»Schon gut. Ich bin hier, um den Nachlass zu regeln.« Er zögerte
kurz, dann gab er sich einen Ruck. »Das Verhältnis zu meinen Eltern war nie das
allerbeste, wie du vielleicht noch weißt. Im Grunde hatten wir gar keines mehr,
seit ich von zu Hause weg bin, und das habe ich sehr begrüßt. Die Rolle des
trauernden Sohnes steht mir nicht. Vielleicht trauere ich auf andere Art, aber
lassen wir das jetzt.«
Emilie schien einen Augenblick verblüfft über seine offenen Worte,
dann nickte sie zustimmend. »Ich denke, ich verstehe, was du meinst.«
Der Latte macchiato wurde in hohen Gläsern serviert, und Tibor war
froh über die Unterbrechung. Er trank einen Schluck.
»Und du? Arbeitest du noch als Journalistin?«
»Ja, aber nicht mehr in Festanstellung. Mir ging es eine Zeit lang
ziemlich beschissen, um es auf den Punkt zu bringen … nach dem Tod meines
Mannes vor drei Jahren.«
Tibor atmete scharf ein. »Oh … tut mir leid, Emilie.«
»Er ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, zwei Jahre
nach unserer Heirat.« Sie sah an ihm vorbei zum Fenster hinaus.
»Ja, ich war sehr glücklich mit ihm … Wenig später ging es meiner
Großmutter zusehends schlechter. Sie brauchte Hilfe, wollte aber ihren letzten
Lebensabschnitt nicht in einer Senioreneinrichtung verbringen. Kann ich
verstehen.« Sie lächelte. »Ich bin zu ihr nach Bornum gezogen – du
erinnerst dich vielleicht noch: Sie wohnte in dem kleinen Häuschen außerhalb
des Dorfs. Nach ihrem Tod bin ich einfach dageblieben. Nur ich und mein Hund Flow.
Es ist ein sehr romantisches Zuhause, finde ich jedenfalls – einsam und
karg, und es passt irgendwie zu mir.«
Emilie hob kurz die Hände. »Wie dem auch sei. Ich habe ein bisschen
was geerbt, lebe sehr sparsam und kann es mir leisten, als freie Journalistin
zu arbeiten und mir die Themen auszusuchen, an denen mir wirklich etwas liegt.«
»Zum
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