Wolfstage (German Edition)
Schäferhund, und manchmal
musste er seinem Jagd-und Lauftrieb folgen.
Als ihr Shirt schon durchgeschwitzt war, verlangsamte Flow endlich
das Tempo und wartete auf Emilie. Sie brauchte eine Pause. Die Sonne stand
schon ziemlich hoch und sorgte nun trotz dicht stehender Bäume für sommerliche
Wärme. Flow trank aus einer kleinen Plastikschüssel etwas Wasser und nahm ein
Stück seiner Lieblingswurst aus Emilies Hand, bevor er zum erneuten Aufbruch
drängte.
Der Hund trabte auf einem kaum erkennbaren und leicht ansteigenden
Pfad zügig voran, sobald sie ihren Rucksack auf den Rücken gehievt hatte,
vergewisserte sich aber mehrfach, dass sie dicht hinter ihm blieb. Kurze Zeit
später blieb er plötzlich wie angefroren stehen, um dann abrupt einen Hang
hinaufzupreschen und mit einem Satz hinter einer gedrängt stehenden Gruppe von Buchen
zu verschwinden. Emilie rannte ihm hinterher. Sie hörte ihn knurren.
»Flow! Nein, komm zurück!«, keuchte sie im Laufen.
Aber der Hund blieb verschwunden. Sie wäre beinahe gestürzt, als
sich unmittelbar hinter der Buchengruppe eine Bodensenke vor ihr auftat, eine
tiefe Grube, in der umgestürzte Bäume lagen und Buschwerk wild vor sich hin
wucherte. Am hinteren Ende, das durch einen felsigen Hang begrenzt war, stand
Flow vor einem Gebüsch und schnupperte und kratzte aufgeregt. Emilie kletterte
zu ihm hinunter und begann, an dem Busch zu ziehen. Als er unvermittelt zur
Seite wegrutschte, hätte sie sich beinahe auf den Hintern gesetzt.
Der Eingang zu einer Höhle wurde sichtbar, und Flow verschwand darin
schneller, als sie reagieren konnte. Emilie folgte ihm langsam, während ihr das
Herz bis zum Hals schlug. Sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten, erkannte sie im Innern eine Feuerstelle, Decken, herumliegenden Müll,
die Reste einer Mahlzeit. Sie atmete erleichtert auf. Hier hatten ein paar
Wanderer gerastet, nichts weiter.
»Reg dich ab, Flow«, sagte sie. »Hier ist niemand mehr.«
Sie drehte sich um. »Flow!«
Ein tiefer Laut vom Ende der Höhle. Emilie schluckte. Sie hatte
keine Taschenlampe dabei. Moment, doch! Sie zog ihr Handy aus dem Seitenfach am
Rucksack. Es war mit einer kleinen Leuchte ausgestattet. Emilie betätigte den
Einschaltknopf und richtete den Lichtstrahl auf die rückwärtige Wand. Mühsam
erkannte sie, dass sich dort eine weitere Aushöhlung befand, von der ein
schmaler Gang abzweigte, dem Flow gefolgt war. Wieder ein Laut, diesmal höher
und anhaltender. Emilie lief ein Schauer über den schweißgetränkten Rücken.
»Flow, komm zurück!«, rief sie.
Kurz darauf begann Flow zu heulen, und sie folgte ihm, ohne darüber
nachzudenken, ob es klug war, weiterzugehen.
Der Gang war niedrig und voller Unebenheiten, es roch modrig und war
finster. Nichts für Menschen, die unter Klaustrophobie litten. Emilie sagte
sich, dass sie jede Menge Probleme mit sich herumschleppte, aber dieses
glücklicherweise nicht dazu gehörte.
Sie richtete den Lichtstrahl nach oben und sah, dass sich jemand die
Mühe gemacht hatte, mit dünnen Stämmen und Ästen so etwas Ähnliches wie eine
Stollendecke anzufertigen, die mehr schlecht als recht auf einigen Stützbalken
ruhte. Hinter einer scharfen Biegung verbreiterte sich der Gang zu einer
weiteren kleineren Höhle – mehr eine zufällige Ausbuchtung, jedoch mit
einer wesentlich höheren Decke.
Flow saß in der Mitte, hatte den Kopf nach oben gereckt und heulte.
Seine Stimme war ein einziges Wolfsklagen. Emilie bekam eine Gänsehaut. Dann
sah sie die Bündel. Fellbündel. Ein seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase.
Blut. Aas. Verwesung. Zwei tote Wölfe. Einer davon sah aus wie eine leere
Hülle. Wie abgezogen. Emilie taumelte entsetzt zurück, ließ das Handy sinken
und presste eine Hand vor den Mund. Ihr Atem ging hektisch. Schließlich hockte
sie sich neben Flow, der sich nur mühsam beruhigen ließ. Seine Flanken
zitterten, während das Heulen in Wimmern und schließlich in angestrengtes
Hecheln überging.
»Schon gut, schon gut«, flüsterte sie und richtete erneut die Lampe
aus.
***
Kati bewohnte ein geräumiges Jungmädchenzimmer, wie es
vielleicht vor fünfzig Jahren mal modern gewesen wäre. Johanna sah sich mit
großen Augen um und hatte Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen. Tüllgardinen,
zierliche helle Möbel und Pastelltöne hätte sie sich zudem eher bei Eva Blum
vorgestellt und weniger bei der forschen Kati.
Maria Lindner stand verloren im Türrahmen, während ihr Mann sich
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