Wolfstage (German Edition)
wurde Zeit für
einen längeren Ausflug.
***
Johanna hatte gut und ausgiebig gefrühstückt, als sie am
nächsten Morgen nach Velpke aufbrach.
Es schien hundert Jahre her zu sein, dass Johanna mit ihren Eltern
ganze Sommertage an der großen Velpker Kiesgrube verbracht hatte. Glückliche
Sommertage. Ihre Mutter hatte Butterbrote, Gurken, Pfirsiche und Apfelkuchen in
der Kühltasche gestapelt, als stünde eine Hungersnot bevor, und an besonders schönen
Tagen durfte Johanna sich zusätzlich zwei Kugeln Eis beim Italiener holen. Die
Hitze erzeugte ein seltsames Flirren über dem Wasser, und es roch nach
Sonnenlotion. Einige Male war sogar ihre Großmutter dabei gewesen – Käthe
mit einer Zigarette zwischen den Lippen auf der Luftmatratze, ein Bild für die
Götter. Dabei konnte sie gar nicht richtig schwimmen. Johanna erinnerte sich
noch gut, wie verwundert sie darüber gewesen war, dass Käthe keinen
Freischwimmer hatte und nur mühsam im Wasser vor sich hin paddelte.
Sie streifte die eindringliche Stimmung ab, die sich in ihr
breitzumachen begann. Irgendwann in den nächsten Tagen musste sie zwischendurch
mal eine Stunde erübrigen, um ihre Mutter zu besuchen. Und Oma Käthe. Da führte
kein Weg dran vorbei.
Die Bogenschützen trafen sich in einer Haupt-und Realschule an der
Bahnhofstraße, wo das Training sowohl in der Sporthalle als auch im Freien
stattfand. Johanna parkte vor einer lang gestreckten Halle neben einem
Landrover. Der Eingang war unverschlossen und führte in einen breiten Flur, von
dem mehrere Türen abgingen. Sie hörte Stimmen. Eine Doppeltür wurde geöffnet,
und ein Mann mit einem Bogen in der Hand kam ihr entgegen.
»Guten Morgen«, grüßte Johanna. »Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?«
Der Mann lächelte. »Ich kann’s ja mal versuchen.«
»Wer ist denn hier der Chef? Ich suche einen verantwortlichen Trainer
oder Lehrer, der mir was zum Kursangebot und zu den Teilnehmern sagen kann.«
»Da kommt eigentlich nur der Louis in Frage. Ich weiß gar nicht, ob
der schon da ist. Mal sehen …« Er wandte sich um und klopfte an eine Tür.
»Wollen Sie bei einem Schnupperkurs mitmachen? Der fängt aber, glaube ich, erst
in einer Stunde an.«
Ein deutliches »Herein« war zu hören.
»Doch, er ist schon da.« Der Mann drückte die Klinke herunter und
ließ Johanna eintreten. »Bitte.«
»Vielen Dank.«
Louis hieß mit Nachnamen Kamper, war ungefähr zwei Meter groß, hatte
schlohweißes Haar und wasserblaue Augen. Johanna schluckte. Sie schätzte ihn
auf Mitte sechzig, und wenn sie je vorgehabt hätte, ihm frech zu begegnen, so
würde sie sich das angesichts seiner hünenhaften Gestalt und
respekteinflößenden Ausstrahlung noch einmal ganz genau überlegen. Herr der
Ringe, dachte Johanna. Der Weiße. Sie hielt es allerdings für keine gute Idee,
ihn zu fragen, ob er häufiger mit Tolkiens Held verglichen wurde.
»Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme war dunkel und volltönend und
passte perfekt.
Johanna stellte sich vor und berichtete kurz, warum sie seine Hilfe
brauchte. Kamper bot ihr einen Hocker an, während er sich selbst hinter einen
angesichts seiner Größe mickrig wirkenden Tisch zwängte. Der Stuhl ächzte unter
ihm. »Kati Lindner, hm …«
»Ich weiß, es ist schon eine Weile her, aber vielleicht gibt es ja noch
Unterlagen über die Veranstaltung.«
»Gut zwei Jahre, hm …« Kamper runzelte die Brauen, und Johanna
hoffte, dass sie mit ihrem Anliegen nicht seinen Unmut heraufbeschworen hatte.
»Den Kurs hat damals der Rolf gegeben. Der ist nicht mehr hier. Besser ist es.«
Er sah sie herausfordernd an, und Johanna war sicher, dass die
beiden nicht unbedingt ein Dream-Team gebildet hatten.
»Wissen Sie, es gibt verschiedene Arten des Bogenschießens. Wir
schießen hier aus unterschiedlichen Distanzen auf Scheiben – in der Halle
und auch draußen – und sehen das als Sport oder als Meditationsübung.
Kennen Sie Herrigel? ›Zen in der Kunst des Bogenschießens‹?«
Johanna beeilte sich mit dem Nicken. Sie hatte das Buch tatsächlich
gelesen, allerdings lag das schon mindestens fünfundzwanzig Jahre zurück, und
sie konnte sich nur noch entsinnen, dass man treffen sollte, ohne zu zielen.
Schwierige Übung.
»Absichtslosigkeit – verstehen Sie?«
»Ich bemühe mich.«
Plötzlich lächelte Kamper. »So kommen Sie nicht unbedingt weiter.«
Johanna lächelte zurück. Im gleichen Augenblick verdüsterte sich
sein Gesicht wieder.
»Rolf hatte anderes im
Weitere Kostenlose Bücher