Wolfstage (German Edition)
mich nicht wiedererkannt hat und ihr das
vielleicht peinlich war: Das ist doch noch lange kein Grund, so abweisend zu sein!
Oder spricht die vor lauter Standesdünkel nicht mehr mit jedem?«
Emilie lachte. »Tja, die Seiberts gehören inzwischen tatsächlich zur
Crème de la Crème, da hast du schon recht. Volker Seibert ist seit Jahren eine
richtig große Nummer in der Autostadt und inzwischen zweiter Geschäftsführer
oder so was, und Erikas Architekturbüro läuft auf Hochtouren. Sie greift immer
die großen Aufträge ab. Allerdings kann ich nicht bestätigen, dass die beiden besonders
hochnäsig wären. Vielleicht hatte sie einen schlechten Tag oder besonders viel
um die Ohren.«
»Jetzt, wo du es sagst: Ich hab mitbekommen, wie irgendjemand
erzählte, dass die Seiberts heute zum Brunch in den Garten einladen. Volker
Seibert feiert wohl Geburtstag oder den nächsten Karrieresprung. Abends gehen
dann die Eheleute ganz schick ins Konzert – so erzählt man sich. Wie dem
auch sei, unter kultiviertem Verhalten oder auch nur gutem Benehmen stelle ich
mir jedenfalls was anderes vor.«
Emilie war sich darüber im Klaren, dass Tibor bereits in der
Schulzeit darunter gelitten hatte, aus ebenso schwierigen wie einfachen
Verhältnissen zu stammen. Sein Vater war Buchhalter gewesen, das Häuschen
hatten sie von den Großeltern geerbt; und Tibor hatte nur Reitunterricht nehmen
können, weil er regelmäßig im Stall aushalf und sich als Vereinsfotograf
nützlich machte. Darüber hinaus war Emilie felsenfest davon überzeugt, dass
insbesondere Tibors Vater auf die Homosexualität des Sohnes alles andere als
offen und tolerant reagiert hatte. Geschweige denn begeistert.
»Hast du eigentlich aus einem bestimmten Grund angerufen?«,
wechselte Tibor schließlich das Thema.
»Ja«, erwiderte Emilie spontan. »Ich brauche deine Hilfe als
Fotograf.«
Sie berichtete ihm in groben Zügen von ihrer Wanderung und dem Fund
in der Höhle, wobei sie sich um einen sachlichen Ton bemühte.
»Übrigens: Eine Hand wäscht die andere. Die Geschichte mit den
Wölfen liegt mir sehr am Herzen, wie dir längst klar sein dürfte. Wenn du mich
begleitest und die Fotos machst, nutze ich meine Möglichkeiten als
Journalistin, um herauszufinden, wo Steffen abgeblieben ist«, ergänzte sie.
Eine Weile blieb es still. Dann hörte sie, wie Tibor tief
durchatmete und sich räusperte. »Okay. Wann?«
»Morgen in aller Frühe.«
»Einverstanden.«
Wenig später beendeten sie das Gespräch. Emilie lächelte. Der Schachzug
war nicht schlecht gewesen.
7
Zwei Wagen standen vor Funkes Haus, aber niemand machte
auf. Das konnte alles Mögliche bedeuten, zum Beispiel dass zwei Menschen allein
sein wollten und Johanna ganz furchtbar stören würde, noch dazu am Sonntag um
die Mittagszeit. Sie wollte gerade ums Haus herumgehen, als ihr Handy Alarm
schlug: Schuster.
»Sie sollten in der Kirche sein. Oder im Bett«, sagte sie statt
einer Begrüßung.
»Geht nicht, Kommissarin Krass. Wir haben einen Todesfall.«
»Was?« Sie stützte sich mit einer Hand an ihrem Wagen ab. Kati,
dachte sie. Verdammte Scheiße, man hat Kati Lindner gefunden. Sie sah Robert
Lindners Gesicht vor sich, und ihr Herz begann zu trommeln.
»Ein junger Mann aus Königslutter ist am Morgen tot im Elm
aufgefunden worden. Die Wolfsburger Kripo ermittelt bereits, und es geht hier
ziemlich hoch her.«
»Mord?«
»Durchaus denkbar.«
Johannas Herzschlag normalisierte sich wieder etwas, obwohl das bei
näherer Betrachtung eigentlich absurd war. Sie atmete tief aus. »Schuster, Sie
wissen aber schon, dass ich lediglich im Fall von Kati und Maybach ermittle und
nicht …«
»Ich weiß, ich weiß, aber Reinders, der den Einsatz der Wolfsburger
Kripo hier selbst koordiniert, da es personell bei ihm so eng ist, hat mich
gerade beauftragt, Sie herzubitten, nachdem ich ihn auf eine merkwürdige
Überschneidung mit Ihren Fällen aufmerksam gemacht habe.«
»Ach, du liebe Güte, da bin ich ja mal gespannt.«
»Mit Recht. Zwei Wanderer haben die Leiche gefunden: ein Fotograf
namens Tibor Kranz und die Journalistin Emilie Funke.«
»Schon wieder die Funke, das glaube ich jetzt nicht!«
»Sollten Sie aber. Die beiden waren übrigens gemeinsam unterwegs, um
tote Wölfe zu fotografieren, die die Funke ganz in der Nähe in einer Höhle
entdeckt hatte.«
»Wie bitte?«
»Am besten, Sie kommen gleich mal in die Dienststelle. Hier ist
richtig was los.«
»Hört sich ganz so an. Ich bin schon auf
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