Wolfstage (German Edition)
als hätte sie am Abend zuvor zwei Flaschen Wein getrunken,
besser gesagt: Fusel. Ich brauche dringend eine Pause, dachte sie.
»Sie sind ziemlich blass«, bemerkte Schuster, als sie ins Auto
stiegen. Er sah sie besorgt von der Seite an.
»Ja, so fühle ich mich auch. Was ist mit diesem Schlossner?«
»Der wohnt inzwischen in München und ist verheiratet; seine Frau
erzählte mir, dass er seit zwei Wochen im Krankenhaus liegt.«
»Der fällt also aus. Nun gut, überprüfen Sie bitte Manslohs Alibi.«
Johanna reichte ihm die Zettel mit den Daten und rieb sich die
Schläfen. »Haben Sie Schmerztabletten dabei?«
Schuster schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, nein. In meinem Schreibtisch
liegt aber eine ganze Schachtel.«
»Wie tröstlich. Lassen Sie uns zurückfahren.«
Die Tabletten hatten kaum gewirkt. Daraufhin war Johanna
ins Hotel zurückgekehrt und hatte sich eine Stunde hingelegt. Sie schlief
sofort ein und fühlte sich anschließend deutlich besser. Trotz der Wärme ließ
sie sich ein üppiges Essen und Kaffee aufs Zimmer kommen und rief im
Krankenhaus an. Wiebors Zustand war unverändert. Unverändert schlecht.
Grimich war telefonisch nicht zu erreichen, darum fuhr Johanna ihren
Laptop hoch und schickte ihr auf einer sicheren Leitung einen Kurzbericht. Sie
war davon überzeugt, dass ihre Chefin mit der knappen Darlegung nicht zufrieden
sein würde, aber das war sie selten. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen
empfand Johanna das Berichteschreiben als Last, andererseits musste sie
anerkennen, dass es sinnvoll war, zwischendurch innezuhalten und bisher
vorliegende Informationen, Daten, Mutmaßungen, Hinterfragungen und so weiter zu
ordnen und sacken zu lassen – erst recht, wenn die Lage so undurchsichtig
und verwirrend war wie im vorliegenden Fall.
Unterbrochen wurde sie beim Schreiben nur, als sich ein abgehetzter
und genervt klingender Reinders meldete, um ihr mitzuteilen, dass die
Handynummer, unter der Kati Uhland angerufen hatte, nicht registriert war. Das
konnte alles Mögliche bedeuten, vor allen Dingen aber eines: eine weitere
Sackgasse.
Als die Mail an Grimich abgeschickt war, rief Johanna die Website
der Tagungsstätte auf. Nach einem kurzen Blick darauf wählte sie jedoch die
Handynummer ihrer Berliner Kollegin Antonia Gerlach. Wenn sie Glück hatte, war
Toni zum Wochenenddienst eingeteilt und hatte mehr Zeit als der
vielbeschäftigte Kollege Reinders, Informationen für sie zusammenzustellen, auf
die Schuster keinen Zugriff hatte.
Die fünfunddreißigjährige Kollegin saß im BKA Berlin den lieben langen Tag vor dem Computer und recherchierte. Johanna tränten
allein schon bei der Vorstellung die Augen, nur auf einen Monitor starren zu
müssen und das Büro allenfalls zu verlassen, um mal aufs Klo oder in die
Kantine zu gehen. Doch Toni mochte ihren Job – mehr noch: Außendienst war
ihr ein Gräuel, nicht zuletzt weil ihr Orientierungssinn kaum diese Bezeichnung
verdiente. Böse Zungen behaupteten, dass sie verhungern würde, wenn die Kantine
plötzlich in ein anderes Stockwerk zöge und niemand ihr den Weg zeigte.
Hinsichtlich verlegter Toiletten kursierte eine vergleichbare Einschätzung.
Johanna war es vollkommen egal, ob Toni links und rechts nicht unterscheiden
konnte, wichtig war ihr, dass sie einander respektierten und problemlos
zusammenarbeiteten. Tonis unverblümte Art trug ihr zusätzliche Punkte bei
Johanna ein, und umgekehrt war es wohl ganz ähnlich, denn Toni war immer
bereit, Johannas Anfragen vorrangig zu behandeln.
»Ich weiß, dass heute Samstag ist«, sagte Johanna statt einer
Begrüßung, als Toni sich meldete.
»Du hast es erfasst! Und gleich vornweg: Ich habe nach drei Wochenenddiensten
hintereinander endlich mal frei. Außerdem hast du mich aus dem Mittagsschlaf
geholt, was ich gar nicht schätze.«
»Tut mir echt leid. Aber so ganz nebenbei: Der Nachmittag ist so gut
wie vorbei, und damit wird es höchste Zeit, deinen Schönheitsschlaf ausklingen
zu lassen. Außerdem ist es dringend, und du bist nun mal unbestreitbar die
Schnellste und Beste.«
»Es ist immer dringend, und du schleimst gerade.«
»Stimmt. Aber vielleicht schaffst du es ja Montagmorgen, einige
Dinge für mich zu recherchieren.«
Toni gähnte. »Ja, vielleicht.«
»Es geht um den Kollegen Wiebor, unter anderem.«
»Scheiße, ja, ich hab davon gehört. Also, was brauchst du?« Das
klang eindeutig interessierter und bedeutend wacher.
»Guck doch mal, was du zur Tagungsstätte
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