Wolfstage (German Edition)
Angst?« Johanna sah sie aufmerksam an.
Die Journalistin schlang ihre Finger ineinander und heftete eine
ganze Weile den Blick darauf.
»Die Situation war bedrohlich. Wie ich schon letztens sagte: Leute
schleichen immer mal wieder um mein Haus – ich wohne recht abgelegen –,
und für mich ist der Zusammenhang völlig klar«, erläuterte sie schließlich und
sah wieder auf. »Ich hatte einfach Angst, auf die Falschen zu treffen, ganz
allein mit meinem Hund, der übrigens sehr viel Ähnlichkeit mit einem Wolf hat.
Außerdem liegt die Höhle ziemlich einsam.«
»Und dann sind Sie nach Hause gegangen, statt Anzeige zu erstatten?«
Funke lächelte. Ein bitteres Lächeln. »Ich wollte erst, aber …«
»Schon gut«, winkte Johanna ab. »Übrigens, unsere Leute von der
Spurensicherung werden sich vor Ort alles sehr genau ansehen und untersuchen.«
»Ich bin begeistert.«
Johanna ging auf den sarkastischen Ton nicht ein. Sie trank einen
Schluck Kaffee, der stark und brühend heiß war.
»So weit dazu. Heute Morgen haben Sie also mit Ihrem Freund zusammen
erneut eine Wanderung unternommen, die Wölfe fotografiert, und was ist dann
passiert?«
»Dann sind wir zurück und –«
»Auf demselben Weg?«
»Nein, wir haben einen kleinen Schlenker in westliche Richtung
gemacht.«
»Warum?«
Emilie Funke überlegte kurz. »Einfach so. Wir waren in eine Unterhaltung
vertieft und haben uns, ohne groß darüber nachzudenken, für eine andere Route
entschieden. Ich kenne mich im Elm ganz gut aus und finde immer nach Hause.«
Sie zögerte. »Außerdem war mein Hund dafür.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Auch während der Hintour? Waren
außer Ihnen noch andere Leute unterwegs? Haben Sie ungewöhnliche Geräusche
gehört oder Ähnliches?«
»Nein, mir ist jedenfalls niemand aufgefallen. Die schmalen Pfade
abseits der Hauptwanderwege werden allerdings auch nur selten benutzt.«
»Ihr Hund hätte sicherlich die Ohren gespitzt und Sie aufmerksam
gemacht, wenn er andere Leute bemerkt hätte, oder?«
»Wenn sie eine bestimmte Distanz unterschreiten, ja. Dann ist er
sofort an meiner Seite. Ansonsten ist Flow aber grundsätzlich sehr aufmerksam
und spitzt ständig die Ohren, wenn ich mit ihm auf Tour bin«, erklärte Funke,
und ein Lächeln hellte plötzlich ihr Gesicht auf. »Das kann dann alles Mögliche
bedeuten – eine Maus, irgendein Vogel, der sich gerade in die Luft erhebt,
oder eben auch dass im Umkreis von einigen hundert Metern noch jemand unterwegs
ist.«
»Verstehe, es könnten also Leute im Wald umhergeschlichen sein, ohne
sich Ihnen auf Sichtweite zu nähern, und Sie hätten davon kaum oder sogar
nichts mitbekommen?«
»Ja, das ist durchaus möglich, zumal ich weniger auf Flow geachtet
habe, als wenn ich allein mit ihm unterwegs bin, und Tibor und ich uns auch
nicht alle drei Meter umgedreht und ständig Ausschau gehalten haben«, gab Funke
zu.
Johanna runzelte die Stirn. »Um ehrlich zu sein, kann ich das nur
bedingt nachvollziehen. Nachdem Ihnen am Samstag schon unerwartet Leute über
den Weg gelaufen waren – was Sie ziemlich erschreckt, sogar verängstigt
hat –, könnte man doch vermuten, dass Sie sich einen Tag später bemühen
würden, besonders aufmerksam zu sein? Oder liege ich da völlig falsch?«
Emilie Funke hielt inne und nickte nachdenklich. »Ich muss zugeben,
dass Ihr Einwand berechtigt ist. Doch zum einen war ich ja diesmal nicht allein
unterwegs und zum anderen hatten Tibor und ich einiges zu bereden. Dadurch
waren wir einfach abgelenkt.«
»Sie kennen sich schon lange – Tibor Kranz und Sie?«
»Wir sind zusammen zur Schule und in den Reitverein gegangen und
haben uns das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen. Tibor ist aus familiären
Gründen für einige Zeit in Königslutter, und wir frischen gerade unsere
Schulfreundschaft – wenn man sie so nennen möchte – wieder auf.«
Wenn man sie so nennen möchte, wiederholte Johanna in Gedanken. »Was
ist dann passiert?«, nahm sie den Faden wieder auf.
»Etwa eine Viertelstunde, zwanzig Minuten nach unserem Aufbruch von
der Höhle geriet Flow plötzlich in helle Aufregung. Er verließ den Pfad und
rannte in den Wald. Ich befürchtete, dass er eine frische Wildspur aufgenommen
hatte, zumal er mein Rufen sehr beharrlich ignorierte. Wir sind ihm sofort
hinterhergelaufen.«
»Läuft ein Hund nicht viel schneller als ein Mensch?«
»Schon, aber Flow hat die ganze Zeit gewinselt und gejapst, und es
war nicht schwer, an ihm
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