Wolfstage (German Edition)
dranzubleiben. Außerdem wollte er, dass wir ihm
folgen, und hat sein Tempo unserem angepasst.«
Sind wir hier bei »Lassie«? Johanna bemühte sich um einen neutralen
Gesichtsausdruck.
»Nach einigen Minuten stoppte er und steuerte dann schnurstracks auf
ein Bündel zu – so sah es für uns von Weitem aus …« Emilie Funke
schluckte. »Der Hund war so aufgeregt, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Dann
sah ich Milan.« Sie wandte den Blick ab. »Wir kennen uns, seit er als kleiner
Knirps zum ersten Mal an der Hand seiner Mutter in den Reitstall gekommen ist.
Mittlerweile hat er studiert und selbst eine Voltigiergruppe geleitet.«
Johanna nahm die Fotos mit der Leiche zur Hand. Milan lag auf der
Seite. Die kreisförmige Verletzung am Hals war überdeutlich. Sie könnte von
einem Messerstich herrühren oder von einem anderen spitzen Gegenstand
verursacht worden sein.
Johanna suchte Funkes Blick. »Und er war bereits tot? Da sind Sie
ganz sicher?«
Pause. »Nein. War er nicht«, sagte Funke nachdenklich. »Ich hatte
das Gefühl …«
»Ja?«
»Er hat noch mal kurz die Augen aufgeschlagen und Flow angesehen.
Tibor bekam das nicht mit. Er kramte gerade sein Handy heraus, um dann
festzustellen, dass wir im Funkloch waren beziehungsweise das Signal so
miserabel war, dass keine Verbindung zustande kam.«
»Der Junge hat Ihren Hund angesehen? Habe ich Sie richtig verstanden?«
»Ja. Dann ist er gestorben. Von einer Sekunde zur nächsten.«
Johanna beschloss, die Äußerung unkommentiert stehen zu lassen. »Und
weiter?«
»Tibor hat die Fotos gemacht – er ist Profi und wusste
natürlich, dass die wichtig werden würden.«
»Was haben Sie währenddessen gemacht?«
»Bitte?« Funke sah sie mit großen Augen an. »Wie meinen Sie das?«
»Was haben Sie gemacht, während Tibor die Fotos schoss?«
»Gar nichts. Milan angestarrt, Flow zu beruhigen versucht und mich
bemüht, keinen hysterischen Anfall zu bekommen.«
Johanna nickte. Das wenigstens klang realistisch. »Sind Ihnen
irgendwelche Gegenstände aufgefallen, die als Waffen getaugt haben könnten?«
»Nein. Aber ich habe auch nicht danach Ausschau gehalten.«
»Anschließend haben Sie den Toten abtransportiert?«
»Ja, auf Tibors Rücken.«
»Warum?«
»Warum was?« Funke sah sie verblüfft an.
»Warum haben Sie den Toten nicht dort liegen lassen und sich auf den
Weg gemacht, um die Polizei zu benachrichtigen? Zumindest einer von Ihnen,
während der andere bei der Leiche geblieben wäre? Immerhin sind Sie
Journalistin und wissen garantiert, wie immens wichtig es für die Arbeit der
Spurensicherung ist, dass am Fundort nichts verfälscht wird. Vom Abtransport
der Leiche mal ganz zu schweigen.«
Funke sah auf ihre Hände. Johanna wartete. Sie aß die nächsten drei
Kekse und spülte mit Kaffee nach.
»Ja, ich weiß, aber … Wir wollten unbedingt weg da, mit ihm«,
sagte Funke schließlich. »Er sah so hilflos aus, und ich hatte fürchterliche
Angst. Wir dachten, dass die Fotos einen hinreichenden Eindruck vermitteln
könnten.«
»Hm. Das ist aber nicht der einzige Grund, oder? Jedes noch so tolle
Foto ist lediglich ein Hilfsmittel und darüber hinaus nur bedingt
gerichtstauglich. Auch damit sage ich Ihnen garantiert nichts Neues.«
Emilie Funke blickte hoch. »Flow wollte auch nicht, dass einer von
uns beiden allein losgeht und der andere Wache hält. Er hat ein Riesentheater
gemacht.«
Johanna beugte sich langsam über den Tisch vor. »Verstehe ich Sie
richtig – Ihr Hund hat entschieden, dass Sie den Toten mitnehmen?«
Emilie Funke zuckte mit keiner Wimper. »So kann man es ausdrücken.«
Johanna atmete laut aus. Derlei Schilderungen hörten sich nicht nur
ein bisschen verrückt an, sondern ziemlich gaga. Sie wusste, dass diese
Einschätzung sich überdeutlich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, ließ aber
Funkes misstrauischen Blick gelassen über sich ergehen.
»Vielleicht waren ja doch Leute in der Nähe«, fügte die Journalistin
trotzig hinzu.
»Oder vielleicht Wölfe«, schlug Johanna vor, ohne den zynischen
Tonfall zu verschleiern.
»Das kann man nicht ausschließen. Übrigens: Vor Jahrhunderten gab es
hier wie in ganz Europa jede Menge Wölfe. Bevor der Mensch anfing, sie
auszurotten.«
»Das ist schlimm, rechtfertigt aber nicht unbedingt Ihr Verhalten.«
Funke machte eine wegwerfende Handbewegung. »Flow ist hochsensibel,
und man tut gut daran, seinem Instinkt zu vertrauen. Ich jedenfalls habe das
nie bereut.«
»Verstehe. Aber es
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