Wolfstage (German Edition)
normalen Umständen sicherlich selbstbewusst und
energiegeladen durchs Leben schritt, stets voran, und immer angemessen
gekleidet war. Sie passte gut in das modern eingerichtete Wohnzimmer, das mit
seinen Buchenmöbeln und Wandteppichen unaufdringlich Wohlstand und Gediegenheit
zum Ausdruck brachte, aber Johanna konnte sie sich auch im Safarilook hinter
dem Lenkrad eines Jeeps vorstellen.
Vor ihrem Aufbruch hatte Schuster Johanna darüber informiert, dass
Alexander Hildmann Inhaber eines mittelständischen Computer-und
Softwareunternehmens in Helmstedt und seine Frau Helen Psychiaterin und
Psychotherapeutin war. Das machte die Sache nicht einfacher.
Johanna nickte, als Alexander Hildmann ihr ein Glas Wasser anbot,
und setzte sich seiner Frau gegenüber in einen der beiden wuchtigen Sessel.
»Danke, dass Sie zu einem Gespräch bereit sind. Ich versichere Ihnen,
dass ich nur die drängendsten Fragen stellen werde«, sagte Johanna leise.
Helen Hildmann hob unmerklich den Kopf und sah durch sie hindurch.
»Ich bin nicht imstande, Ihr Leid zu ermessen«, fügte die
Kommissarin nach einer kleinen Pause hinzu und hielt dem leeren Blick stand.
»Wir werden alles tun, das Unglück so schnell wie möglich aufzuklären.«
In den starren Augen der Frau blitzte so etwas wie Interesse auf.
Ihr Mann nahm neben ihr Platz, aber sie beachtete ihn nicht. »Das Unglück«,
sagte sie. »Ja. Sie wissen also noch nicht genau, was passiert ist?«
»Nein. Genaue Ergebnisse liegen bislang nicht vor, und ich möchte
nicht spekulieren.«
»Ich … bedenken Sie bitte, dass ich ein starkes Medikament
genommen habe. Sonst könnte ich nicht hier sitzen.«
»Ich weiß. Ich werde das selbstverständlich berücksichtigen«, sagte
Johanna.
Ihr Herz klopfte plötzlich hart gegen die Rippen. Niemand außer
ihrem alten Freund und Mentor Siegfried König wusste, wie nah ihr Mütter und
Väter gingen, die ihre Kinder verloren hatten – ob sie drei, zwölf,
zweiundzwanzig oder dreißig Jahre alt waren, spielte eine untergeordnete Rolle.
Und jeder, der in solchen Fällen an Johannas Seite arbeitete, war perplex, wie
sanft und dennoch zielgerichtet sie ihre Befragungen durchzuführen vermochte.
Als hätte sie ihr Raubein an der Tür abgegeben.
»Danke. Stellen Sie Ihre Fragen.«
Alexander Hildmann räusperte sich, und Johanna schloss ihn mit einem
Nicken in die Runde ein. Meistens waren es die Mütter, die zumindest am Anfang
die wichtigere Informationsquelle darstellten, aber das musste sie ja dem Vater
nicht auf die Nase binden.
»Vorweg – hat Ihr Sohn Henrik sich schon gemeldet?«
»Ja, gerade eben. Glücklicherweise. Er ist unterwegs hierher«, antwortete
Alexander Hildmann. »Er war bei einem Freund und hat lange geschlafen.«
Johanna atmete erleichtert aus und sah dann auf die Uhr: Es war nachmittags.
Der junge Mann schien einen gesegneten Schlaf zu haben.
»Gut. Könnten Sie bitte kurz skizzieren, wie der gestrige Tag verlaufen
ist?«
»Wir waren zu viert bei den Seiberts zum Brunch eingeladen. Unsere
Familien sind seit Jahren eng befreundet. Volker hatte Geburtstag«, erörterte
Hildmann mit gedämpfter Stimme.
»Wie lange waren Sie dort?«
»Bis zum späten Nachmittag. Abends sind Helen und ich mit Volker und
seiner Frau Erika nach Wolfsburg ins Schloss gefahren, um gemeinsam ein Konzert
zu besuchen. Anschließend waren wir noch essen. Es war ein langer Abend.« Er
sah kurz zur Seite. »Wie schon vorhin Ihren Kollegen gegenüber erwähnt –
wir waren spät zurück, und dass Milan nicht da war, ist insbesondere am
Wochenende nicht ungewöhnlich.«
»Ihre Söhne sind nach der Geburtstagsfeier gemeinsam aufgebrochen?«
»Ja, das war so gegen siebzehn Uhr, ungefähr. Henriks Auto ist
zurzeit in der Werkstatt. Milan hat ihn mitgenommen, weil sie einen ähnlichen
Weg hatten.«
»Was genau heißt das?« Johanna sah Helen Hildmann an.
»Milan wollte sich mit Kommilitonen in einer Studentenkneipe treffen,
wo genau, weiß ich allerdings nicht«, erwiderte sie zögernd. »Und Henrik wollte
nach Hause.«
»Sagten Sie nicht, dass er mit einem Freund verabredet war?«, wandte
sich Johanna wieder an Alexander Hildmann.
Der nickte bedächtig. »Ja, schon, aber ich erinnere mich,
mitbekommen zu haben, dass er erst nach Hause wollte, um dann später noch mal
aufzubrechen.«
»Wohnt Henrik in Braunschweig?«
»Nein, er wohnt in der Tagungsstätte im Reitlingstal. Er hat dort eine
Ausbildung in Bürokommunikation gemacht und ist übernommen
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