Wolfstage (German Edition)
Karrieren
hinlegen. Zum anderen hat Erika Seibert höchst abweisend reagiert, als Tibor
sie nach Steffen fragte und …«
»Frau Funke, wo sind Sie jetzt?«
»Ich stehe bei den Seiberts vor der Tür.«
»Warten Sie, ich komme dorthin.«
***
Tibor stellte die Füße auf und legte die Arme locker auf
die angewinkelten Oberschenkel, so als bemühe er sich um eine entspannte
Sitzhaltung.
»Wie wird man zum Mörder?«
Seibert verschränkte die Arme vor der Brust. »Interessiert dich das
wirklich? Oder geht es nur darum, das Unabänderliche hinauszuzögern?«
»Beides.«
»Das ist eine ehrliche Antwort.«
»Sie waren kein Mörder – ich meine, Sie sind nicht als solcher
zur Welt gekommen, wie die meisten Menschen sehr wahrscheinlich nicht als
Mörder geboren werden«, fügte Tibor hinzu. »Was hat Sie dazu werden lassen?«
»Interessante Frage, sofern man daran glaubt, dass Mordlust erlernt
werden muss und nicht doch irgendwie in einem verankert ist. Oder zumindest in
manchen von uns«, meinte Seibert. »Aber das nur nebenbei. Wahrscheinlich war es
die Unverfrorenheit, mit der dieser Typ, dieser dahergelaufene Reitlehrer,
meine Familie zerstört hat, wobei ich ganz und gar nicht verhehlen will, dass
die unrühmliche Rolle, die meine Frau bei der ganzen Sache gespielt hat, von
entscheidender, von ausschlaggebender Bedeutung war. Letztlich hat sie den
Stein ins Rollen gebracht. Obwohl … was Moritz angeht …« Er machte
eine abwägende Handbewegung. »Wie dem auch sei. Nie hätte ich angenommen, dass
sie sich auf so einen schmierigen Typen einlassen würde.«
Lass ihn reden, immer weiterreden, dachte Tibor, und die Angst
flatterte durch seine Eingeweide. Jetzt keine Zwischenfragen und schon gar
keine Einwände. Zeit, Zeit. Und noch mehr Zeit.
Er öffnete die Schenkel einen schmalen Spalt und schob die zusammengelegten
Hände dazwischen. Die Fußfesseln waren stramm um beide Gelenke gebunden –
sie ließen ihm allenfalls so viel Spielraum, dass er kleine unbeholfene
Schritte machen, hüpfen oder etwas flotter tippeln könnte. Das war wenig
effektiv, sah lächerlich aus und war kaum geeignet, wegzulaufen, geschweige
denn sich aus einer Notlage zu befreien – aus einem Haus, das er nicht
kannte, auf einem Gelände, das ihm fremd war, noch dazu mitten in der Nacht und
konfrontiert mit einem Mörder. Vielleicht sollte er die Lachnummer versuchen,
in der Hoffnung, Seibert würde sich kugeln vor Lachen und ein Einsehen haben …
»Dabei hat sie wirklich gedacht, ich würde nichts merken«, fuhr Seibert
kopfschüttelnd fort und lehnte sich entspannt zurück. »Natürlich habe ich es
gemerkt. Ich habe immer gemerkt, wenn sie jemanden hatte – auch heutzutage
bekomme ich mit, wenn sie eine Affäre hat, zumindest kenne ich die meisten
Anzeichen dafür und mache mir meinen Reim darauf, aber inzwischen ist es mir
völlig egal. Sie hat nie gemerkt, dass ich wusste, was los war. Ich bin ihr
sogar gefolgt, um dann entsetzt festzustellen, dass sie es mit dem jungen
Reitlehrer trieb. Aber gut, ich dachte, sie hätte es im Griff und würde es nach
ein, zwei, vielleicht vier Wochen beenden, was leider eine bedauerliche
Fehleinschätzung war, wie wir wissen.«
Seibert warf Tibor einen Blick zu, als erwartete er eine Art
Zustimmung. »Um das alles richtig zu verstehen, muss man wissen, dass wir uns
stets einig waren, was wir vom gemeinsamen Leben wollten: stabile
Partnerschaft, Familie, berufliches Vorankommen mit den entsprechenden
finanziellen Vorteilen, gesellschaftliche Anerkennung und hin und wieder etwas
Spaß außerhalb der Ehe, diskret natürlich. Um ehrlich zu sein«, diesmal warf er
Tibor einen verdutzten Blick zu, »ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass Erika
diesen abgesprochenen Freiraum tatsächlich nutzen würde. Sie schien mir …
nun, sagen wir: nicht sonderlich an erotischen Erfahrungen außerhalb des
Ehebetts interessiert zu sein. Aber da hatte ich mich wohl geirrt, und zwar
gründlich. Ein schwuler junger Mann hat sie um den Verstand gevögelt – und
das war offensichtlich ganz nach ihrem Geschmack.«
Er hob mit einer abrupten Bewegung das Kinn. »Kann man sich so in
einem Menschen täuschen?« Er nickte Tibor zu. »Sag du es mir.«
Ausgerechnet ich als Schwuler soll ihm eine Antwort geben, dachte
Tibor. Das Seil, mit dem seine Fußgelenke gefesselt waren, war dünn, aber von
sehr guter Qualität. Seine Finger tasteten vorsichtig darüber. Die Knoten waren
festgezogen. Beim ersten Abtasten hatte er
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