Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
Handschuhfach suchte sie nach Guerrinis Pistole, fand aber nur Straßenkarten. Auch im Kasten zwischen den vorderen Sitzen lag keine Waffe.
Es ist ja auch ein anderer Wagen, dachte sie, wurde plötzlich wütend auf Guerrini, weil er sie hier allein sitzen ließ, ohne Waffe. Falls der schwarze Geländewagen von irgendwoher auftauchte, wäre sie völlig wehrlos.
Sie stieg aus, ging ein paar Schritte, folgte einem schmalen Jägersteig, der in die Macchia am Fuß des Hügels führte. Fand bunte Patronenhülsen, zwei Stachelschweinborsten. Links von ihr flog kreischend ein Fasan auf, ließ sie mit klopfendem Herzen zurück.
Sie versuchte sich zu entspannen, nur die blühenden Büsche wahrzunehmen, das Summen der Bienen. Es funktionierte nicht. Sie sah Risse in der trockenen Erde, winzige Tierknochen und noch mehr Patronenhülsen. Als Guerrini nach ihr rief, wäre sie vor Erleichterung beinahe losgerannt, zwang sich aber, langsam zu gehen.
Er stand noch immer neben der Schirmpinie auf dem Hügel, winkte ihr zu, als sie aus dem Gebüsch trat.
«Komm rauf!»
Sie keuchte, als sie oben ankam, fühlte sich schwach, ließ ihren Blick suchend über das Tal wandern.
«Er ist nicht da!», sagte Guerrini und legte einen Arm um ihre Schultern. «Niemand ist uns gefolgt.»
Laura tastete mit einer Hand unter seine linke Achsel, fand die Waffe im Schulterhalfter.
«Dich hat’s ganz schön erwischt, was?», murmelte er und drückte sie leicht an sich. «Ich wollte dir das hier zeigen. Einer meiner Fluchtpunkte. Dieser alte Baum hier, dieser Hügel und dieser Blick. Fass diesen Stamm an, dann geht es dir gleich besser.»
Er legte Lauras Hand auf den Stamm der Pinie. Die rotbraunen großen Schuppen der Rinde fühlten sich an wie die Haut eines riesigen Reptils, eines Urtiers. Laura legte den Kopf in den Nacken und schaute zu dem Dach aus dunkelgrünen weichen Nadeln hinauf und zu den mächtigen Ästen, die weit über den Hügel hinausragten, als wollten sie ihn beschützen.
«Er war schon so groß, als ich noch ein Junge war. Mein Vater hat mich manchmal auf die Fasanenjagd mitgenommen, dann bin ich hier heraufgeklettert und habe auf ihn gewartet. Er ist so was wie mein Kraftbaum.»
«Danke», sagte Laura leise.
Nebeneinander setzten sie sich zwischen die Wurzeln, lehnten sich an den Stamm, blickten schweigend über das krause Grün der Macchia hinaus auf Weiden und Felder, die sich wie farbige Muster über die Hügellandschaft legten.
Nach einer Weile schaute Angelo auf die Uhr.
«Es ist Zeit für Montelli.»
Guerrini hatte beschlossen, seine ganze kleine Truppe nach Borgo Ecclesia mitzunehmen. Auch ihn beunruhigten die schwarzen Geländewagen tiefer, als er zugeben wollte. Deshalb ließ er seine Kollegen rund um das Anwesen Montellis in Position gehen, möglichst unauffällig, aber mit der Anweisung, jeden aufzuhalten, der das Gelände verlassen wollte. Laura blieb bei Tommasini, obwohl Guerrini ihr halbherzig angeboten hatte, ihn zu begleiten. Montelli war seine Angelegenheit.
Als er mit seinem Auto auf die Einfahrt mit den vergoldeten schmiedeeisernen Toren zusteuerte, spürte er ein leichtes inneres Beben, dachte, dass man sich vor einem Duell so ähnlich fühlen müsste. Und er versuchte, zwischen dem Schulkameraden Montelli und dem anderen zu trennen, zu rekapitulieren, was er inzwischen von dem anderen Montelli wusste. Die Kollegen aus Florenz hatten ihm eine E-Mail geschickt, gerade noch rechtzeitig vor dieser Begegnung.
Ende der achtziger Jahre hatte Montelli die kleine Textilfabrik eines Onkels in Prato geerbt. Mitte der Neunziger erlebte die Firma einen plötzlichen Aufschwung, expandierte seither fast ununterbrochen. Seit diesem Aufschwung beschäftigte Montelli immer mehr Näherinnen und sonstiges Personal aus China, was in der allgemeinen Expansion der Textilindustrie von Prato nicht auffiel. Sie wurde ohnehin still und heimlich von chinesischen Geschäftsleuten übernommen. Montelli jedoch blieb an der Spitze seines Unternehmens, bekam Auszeichnungen als Unternehmer des Jahres und so weiter. Genau dieser Punkt war wohl die Verbindung zu Altlanders Buch über organisierte Kriminalität und zu seinen Bemerkungen, dass ihn alles ankotze! Oder war es Zufall?
Aber er hat zwei Geschäftsführer, und die sind Chinesen, dachte Guerrini. Ihm erschien das Ganze merkwürdig, und er hätte gern mehr gewusst. Doch offensichtlich gab es darüber keine Informationen. Solange einer die Wirtschaft am Laufen hielt, wurde
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