Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
hätte man mir ein Stück entrissen.»
«Nein, das glaube ich ganz und gar nicht, Signora.» Guerrini fühlte sich ein wenig unbehaglich. Woher wusste sie, dass er an Eliot gedacht hatte? Kaum jemand heutzutage kannte Eliot. Der junge Buchhändler in Siena vielleicht, der ihm Altlanders Gedichte verkauft hatte, und ein paar Literaturstudenten, aber sonst …
«Das ist nett von Ihnen, Commissario.» Sie wandte den Kopf. «Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. So habe ich einen Grund, aufzustehen und einen caffè zu kochen.»
Guerrini wollte einwenden, dass er gerade einen Espresso getrunken hatte, doch er unterließ es. Vermutlich tat es Elsa Michelangeli gut, einen Kaffee zuzubereiten. Jetzt stand sie auf und kam auf ihn zu, eine große schlanke Frau, sehr aufrecht, mit leicht erhobenem Kinn. Aristokratisch wirkte sie mit ihren herben Gesichtszügen und dem weißen Haar. Sie wies auf die großen Gemälde, die in Guerrini ein Gefühl auslösten, als hätte die Künstlerin das Land durch ein sehr starkes Vergrößerungsglas betrachtet, eines, das in die Erde eindringen konnte, um ihr alle Geheimnisse zu entreißen.
«Giorgio war der Spiegel meiner Kunst», sagte sie leise. «Er begriff sofort, was ich zeigen wollte. Manchmal schrieb er ein Gedicht, wenn er eines meiner Bilder betrachtet hatte. Manchmal malte ich ein Bild, wenn ich eines seiner Gedichte gelesen hatte. Es war eine Art Befruchtung, Frage und Antwort.»
Guerrini versuchte sich an die vier Zeilen zu erinnern, die er in Altlanders Gedichtband gelesen hatte.
«Und der rote Mantel der Vergeltung …», begann er, blieb natürlich stecken. Elsa Michelangeli sah ihn erstaunt an, hob leicht die Augenbrauen und fuhr fort:
«… wird dereinst die Erde fegen,
wenn sie verdorrt ist
unter der menschlichen Gier.
Schatten schwarzer Vögel
werden die Sonne verdunkeln,
Stöhnen das Universum füllen,
wenn Gaia sich von uns befreit.»
Einen Augenblick lang lauschten Guerrini und die Malerin diesen mächtigen apokalyptischen Worten nach.
«Haben Sie ein Bild dazu gemalt?»
«Ja, das habe ich. Nicht nur eines. Eine ganze Serie. Sie hängt im Museum für moderne Kunst in Rom. Aber wenn es Sie interessiert, Commissario, ich habe Fotos der Bilder.»
«Ich würde sie gern sehen.»
«Dann kommen Sie mit hinunter. Ich mache uns Kaffee.»
Auf halber Treppe blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um.
«Was wollen Sie eigentlich von mir, Commissario?»
«Nun, was man in meinem Beruf so macht, Signora. Ich möchte Ihnen zuhören, ein paar Fragen stellen, und ich möchte herausfinden, was für ein Mensch Giorgio Altlander war.»
Wieder lachte sie auf. Spöttisch diesmal.
«Was für ein Mensch er war? Das weiß ja nicht einmal ich genau, obwohl ich ihm so nahestand. Es gab immer wieder neue Seiten an ihm zu entdecken – manche wunderbar, andere erschreckend, ja abstoßend.» Sie ging weiter, strich im Vorübergehen einer Katze über den Rücken. Guerrini folgte ihr langsam, war froh, dass Tommasini nicht da war. Angesichts dieser feingeistigen Gespräche hätte er vermutlich einen Anfall von Klassenhass bekommen und Guerrini gleich mit eingeschlossen.
«Ich bereite meinen Espresso noch auf die altmodische Art, und ich finde, er schmeckt besser als aus diesen Maschinen.» Sorgfältig füllte sie den Einsatz eines Aluminiumkännchens mit Kaffeepulver, goss Wasser in den unteren Teil, schraubte alles zusammen und entzündete auf dem Herd eine Gasflamme.
«Möchten Sie ein paar cantuccini dazu, Commissario? Selbstgebacken. Giorgio liebte meine Mandelkekse.»
«Haben Sie auch für ihn gekocht, Signora?»
«So gut wie nie. Das machte Enzo. Er kocht wirklich gut, wenn er Lust dazu hat. Ich habe nur gekocht, wenn Giorgio mich besuchte. Faraona con fichi freschi mochte er ganz besonders gern.»
Bei der Vorstellung von Perlhuhn mit frischen Feigen lief Guerrini das Wasser im Mund zusammen, und ihm wurde bewusst, dass er außer einem kargen Frühstück heute noch nichts zu sich genommen hatte.
«Ich nehme gern ein paar Ihrer cantuccini , Signora!», sagte er schnell und überlegte gleichzeitig, welche Rolle sie wohl in Altlanders Leben gespielt hatte. Muse, Mutter, Schwester? Platonische Geliebte? Vermutlich alles zusammen.
Er beobachtete die Malerin, während sie in der Küche umherlief, die Keksdose aus dem alten Bauernschrank nahm. Sie trug einen langen dunkelblauen Rock, eine enge Leinenbluse in einem Blau, das eine Nuance heller war. Beides betonte ihre schlanke
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