Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
scheint?»
«Natürlich, ich sitze auf dem Balkon. Aber ich habe vor, jetzt aufzustehen und meinen Vater in Schwabing zu besuchen. Falls dieses Büro auf dem Weg liegt, kann ich ja mal reinschauen. Du interessierst dich doch sowieso nicht für diesen Fall.»
«Es ist kein Fall, Laura. Der Staatsanwalt will morgen die Sache ad acta legen, falls nichts Neues herauskommt.»
«Es kann nur etwas Neues herauskommen, wenn man Fragen stellt, findest du nicht?»
«Normalerweise schon – aber in dieser Angelegenheit übertreibst du mal wieder.»
«Also hör mal zu: Wer leitet die Ermittlungen? Du oder ich?»
«Ich dachte, Hierarchien bedeuten dir nichts!»
«Es gibt bestimmte Situationen, in denen Hierarchien durchaus nützlich sind, mein lieber Kollege. Dies ist so eine! Gibst du mir jetzt die Adresse des Büros oder nicht?»
Baumann schwieg einen Augenblick, dann räusperte er sich und diktierte Laura die Anschrift des Genossenschaftsbüros.
«Wolltest du wirklich deinen Vater besuchen?»
«Ja, natürlich.»
«Dann grüß ihn von mir.»
«Klar. Übrigens, lass Claudia mal nachprüfen, ob es irgendwas über einen gewissen Giorgio Altlander im Archiv gibt. Und sie soll mal im Internet nachsehen, was da über ihn zu finden ist.»
«Hatte der was mit unserem Alten zu tun?»
«Nein – aber er ist auch tot.»
«Und was geht das uns an?»
«Ich weiß es noch nicht.»
«Sag mal – geht’s dir gut?»
«Sehr gut. Ciao! »
Laura legte das Telefon neben sich, schloss kurz die Augen und räkelte sich in der Sonne. War sie ein Workaholic, wie Baumann behauptete?
«Nein!», sagte sie dann laut. «Ich bin nur neugieriger als andere, und ich kann meine Freizeit besser genießen, deshalb brauche ich weniger.»
Stimmte das? Manchmal – aber die anderen schienen nie zu begreifen, dass sie gern arbeitete –, meistens jedenfalls. Dass sie wirklich an anderen Menschen interessiert war. Deshalb hatte sie ja diesen Beruf ergriffen, obwohl ihr Vater, der alte Rechtsanwalt Dr. Emilio Gottberg, dagegen gewesen war. Wie er hätte sie Rechtsanwältin werden sollen – das hatte zwar auch eine Menge mit inneren Irrgärten zu tun, aber die Distanz war größer. Ein Rechtsanwalt bearbeitete Irrgärten, während ein Kommissar sie Schritt für Schritt erforschte, um ihre Erbauer zu finden. Die übergab er dann dem Rechtsanwalt und dem Richter – samt dazugehörigem Irrgarten.
Laura warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Sofia würde gegen zwei aus der Schule kommen, und dann wollte Laura unbedingt zu Hause sein, um mit ihrer Tochter zu essen. Wenn sie gleich losfuhr, konnte sie zuerst dieses Genossenschaftsbüro besuchen und dann ihrem Vater ein wenig Gesellschaft leisten.
Träge löste sie sich von ihrem Sonnenbad, tapste halbblind durch die Küche ins Bad, sah mehr schwarze Punkte als sich selbst im Spiegel, legte Lippenstift auf und hoffte, dass sie ihre Lippen getroffen hatte. Dann griff sie nach ihrem kleinen Rucksack, dem Autoschlüssel und lief schnell die neunundachtzig Stufen hinunter, die sie schon so oft gezählt hatte – beim Hinaufsteigen allerdings, nach langen erschöpfenden Nächten.
Es war ein warmer Tag, endlich löste ein wenig Sommer den zaghaften Frühling ab. Lauras alter Mercedes parkte, bedeckt von Blütenblättern und gelben Pollen, unter Lindenbäumen, klebte von Blütensaft. Es war einer dieser leuchtenden hellgrünen Tage, an denen Laura die Stadt liebte und selbst Verkehrsstaus erträglich fand. An diesem Montag brauchte sie allerdings nur knapp zwanzig Minuten von ihrer Wohnung in Haidhausen nach Schwabing, und sie fand das Büro der Baugenossenschaft im üppig begrünten Hinterhof eines alten Mietshauses nahe der Münchner Freiheit.
Als sie auf die Klingel drückte, geschah zunächst gar nichts. Als sie es ein zweites Mal versuchte, drang Rauschen aus der Sprechanlage, dann beschied ihr eine verzerrte Frauenstimme, dass heute kein Sprechtag sei. Sie solle am Dienstag nächster Woche zwischen 18 und 20 Uhr wiederkommen.
«So lange möchte ich eigentlich nicht warten», gab Laura zurück. «Kripo München. Ich habe ein paar Fragen.»
Keine Antwort. Es rauschte noch ein paar Sekunden, dann näherten sich Schritte der Tür, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und gleich darauf erschien das misstrauische Gesicht einer jungen Frau, deren dunkles Haar in zwei dicke lange Zöpfe geflochten war, die ihr bis zur Taille herabhingen. Ihr rundes Gesicht veränderte sich beim Anblick von Laura
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