Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
eine Zypressenallee überging. Keine besonders lange oder herrschaftliche Allee. Nur ein Akzent in der Landschaft, mehr nicht. Das Haus selbst lag im Schatten dichter Schirmpinien, wurde eingefasst von blühenden Oleanderbüschen und Kletterrosen. Als Guerrini aus dem Wagen stieg, fiel ihm die beinahe vollkommene Stille auf. Katzen lagen in sonnigen Ecken herum, und sechs schneeweiße Tauben saßen auf dem Dach, radschlagend wie Pfaue.
Ein plötzlicher Windstoß bewegte die Äste der Pinien, das Rauschen durchbrach die Stille, setzte sich fort in Taubengurren und im Schlagen eines Fensterladens oder einer Tür. Ein unwirklicher Ort, zeitlos, verwunschen. Kränze getrockneter Pepperoni hingen neben dem Eingang. Wieder schlug eine Tür. Der Wind war warm und heftig.
«Signora Michelangeli!»
Guerrini lauschte seiner eigenen Stimme nach, die ihm zu laut vorkam und seltsam zu hallen schien. Die Tür gab unter seinem vorsichtigen Druck nach, war nur angelehnt gewesen.
«Signora?»
Er betrat die halbdunkle Eingangshalle, warf einen Blick in die Küche, einen zweiten in den Wohnraum, der sich zu einer Terrasse öffnete.
«Signora?»
Es war die Terrassentür, die im Wind schlug. Niemand war zu sehen, nur eine Katze schlief auf dem riesigen rostroten Sofa, eine zweite in einem Sessel. Keine der beiden beachtete Guerrini. Er schloss die im Wind schlagende Tür, fand noch einen Raum, das Schlafzimmer, meinte im Dämmerlicht auf dem breiten Bett den Umriss eines Menschen zu sehen, doch es waren nur Kissen mit dunklen Seidenbezügen. Endlich wandte er sich der schmalen Treppe zu, die in den ersten Stock führte. Erst jetzt, da seine Augen sich an das Halbdunkel im Innern des Hauses gewöhnt hatten, nahm er die großen Gemälde an den Wänden wahr. Sie fügten sich beinahe organisch in die Architektur ein, und Guerrini erkannte auf ihnen die Landschaften seiner Heimat oder vielmehr die Essenz dieser Landschaften. Ganz ähnliche Bilder hatten in Altlanders Haus die Wände bedeckt.
«Signora Michelangeli?»
Langsam stieg er die steilen Stufen hinauf, gelangte an ihrem Ende in einen hellen Raum, der das gesamte Stockwerk einnahm. Große Staffeleien standen an den Wänden, Tongefäße voller Pinsel, Kästen mit Farbtuben. In der Mitte des Raums lagen große glatte Steine und bildeten eine Art Labyrinth. Vor einer besonders großen Leinwand auf einer riesigen Staffelei nahe der Fensterfront saß Elsa Michelangeli, das Kinn in die rechte Hand gestützt, bewegungslos. Die Leinwand war weiß und leer.
Ein paar Minuten lang ließ Guerrini die Atmosphäre des Raums auf sich wirken, dann räusperte er sich leise.
«Signora Michelangeli?»
Sie begann so unvermittelt zu sprechen, dass er ein wenig erschrak.
«Seit gestern sitze ich hier und versuche ein Bild in mir aufsteigen zu lassen. Eines, das sein Leben beschreiben könnte. Aber es geht nicht, da ist nichts als diese leere Leinwand und dahinter noch mehr Leere, als würde ich einen leeren Raum nach dem anderen betreten.»
Waste Land , dachte Guerrini, und ihm fiel plötzlich wieder ein, dass es die Überschrift eines endlos langen Gedichts von T. S. Eliot war, das er vor vielen Jahren gelesen hatte. Daher also war ihm der Name Wasteland vertraut. Vieles in den Versen hatte er damals nur halb begriffen, anderes war ihm sehr nahegegangen. Irgendwo in seinem Bücherregal zu Hause musste der Gedichtband noch herumstehen. Gleich heute Abend würde er nachsehen.
«Haben Sie gerade an Eliot gedacht?» Sie starrte noch immer auf die Leinwand.
«Wie bitte?»
«Es liegt nahe, nicht wahr?»
«Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich an Eliot gedacht habe, Signora?»
«Weil Sie an ihn gedacht haben, genau wie ich. Zehnmal habe ich sein Gedicht letzte Nacht gelesen. Vor allem jene Stelle, wo er fragt, wer der dritte Mann sei, der neben uns geht. Der dritte mit dem braunen Mantel und der Kapuze. Der dritte geht immer neben uns, wenn wir zu zweit sind, nicht wahr, Commissario? Wir alle wissen es, aber wir glauben es nicht wirklich.» Plötzlich lachte sie, drehte sich aber noch immer nicht zu Guerrini um.
«Ich habe mir tatsächlich eingebildet, dass wir zusammen alt werden könnten. Jeder auf seinem Hügel, aber immer in Kontakt, verwandt im Denken und Fühlen.» Elsa Michelangeli strich mit der linken Hand über die leere Leinwand. «Sie werden über mich lachen, Commissario. Wahrscheinlich denken Sie, ich sei eine verrückte alte Frau. Aber ich fühle mich wie eine Witwe … als
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