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Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt

Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt

Titel: Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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riesige dunkle Vögel. Ich sitze gern hier, wenn ein Gewitter am Amiata aufzieht.»
    Bei ihren Worten fielen Guerrini wieder die Verse ein, die sie gestern zitiert hatte. Wie war das gewesen?
Schatten schwarzer Vögel
werden die Sonne verdunkeln …
    Weiter wusste er nicht mehr. Schon immer hatte er sich nur die ersten Zeilen von Gedichten merken können. Er wollte die beiden Zeilen laut aufsagen, kam aber über die erste nicht hinaus.
    «Seien Sie still!» Ihre Stimme klang hart. «Kommen Sie mir nicht wieder mit sentimentalen Tricks!»
    «Bei diesen Wolken liegt das Gedicht doch ganz nahe. Haben Sie etwa nicht daran gedacht?»
    «Nein.»
    «An was dann? An Waste Land von Eliot?»
    Sie antwortete nicht. Guerrini beugte sich zu dem Bildstock hinab und schaute auf den kleinen Marienaltar. Dort brannte eine Kerze. Flackernd kämpfte ihre Flamme gegen den Wind.
    «Ich zünde auch Kerzen an, wenn mir jemand wichtig ist», sagte er leise.
    Elsa Michelangeli hatte die Augen geschlossen, schien dem Wind auf ihrem Gesicht nachzuspüren.
    «Gestern habe ich zehn Kerzen angezündet», fuhr Guerrini fort, schaute auf den Berg, der die schwarzen Wolkenfetzen auszuspucken schien, und wusste, dass er sich auf unsicherem Terrain bewegte.
    «Ich gedenke nicht, meine innersten Gefühle mit einem Polizisten zu teilen!» Ihre Stimme war irgendwie zu laut und heiser. Als Guerrini zu ihr hinschaute, sah er Tränen über ihre Wangen laufen, wandte schnell seinen Blick ab.
    «Nein», murmelte er. «Ein Polizist ist sicher nicht der Richtige, um solche Gefühle zu teilen.» Dann setzte er sich auf einen großen Feldstein und wartete. Ihm fiel auf, dass von dieser Stelle aus die Landschaft unberührt wirkte. Er konnte kein Haus entdecken, keine Straße, kein Dorf. Nur Hügel, Waldflecken und den uralten Berg, der einst Feuer und Schwefel gespuckt hatte. Und er hörte, wie Elsa Michelangeli ihr Schluchzen zu unterdrücken versuchte, wie ihr Schmerz trotz aller Kämpfe immer heftiger nach außen drängte und sie plötzlich nachgab, mit einem rauen Aufschrei das Gesicht in den Händen vergrub.
    Er rührte sich nicht, und trotzdem richtete sie ihre Verzweiflung gegen ihn, schrie ihn an, dass er verschwinden solle, dass er kein Recht habe, sie so zu sehen.
    «Signora», sagte er vorsichtig, als sie erschöpft verstummte. «Wenn ich den Menschen verlieren würde, den ich am meisten liebe, dann würde ich ganz genauso leiden und weinen wie Sie. Ob ich nun Polizist bin oder nicht.»
    Seine Worte riefen einen neuen Ausbruch von Schmerz und Wut hervor.
    «Er war mein Freund, mein Bruder! So habe ich ihn geliebt. Es war eine reine Liebe! Sie kleiner schmutziger Schnüffler!»
    Drüben am Monte Amiata fuhren jetzt Blitze aus den dunklen Wolken, und fernes Grollen rollte über die Hügel zu ihnen herüber. Guerrini wunderte sich, dass sie seine Worte genauso verstanden hatte, wie sie gemeint waren, und dass sie sich so schnell verraten hatte. Er überlegte, wie er sich fühlen würde, wenn Laura Gottberg lesbisch wäre und er sie trotz allem zum Mittelpunkt seines Lebens machen würde. Allen Heiligen sei Dank, sie war nicht lesbisch. Ganz und gar nicht. Aber wenn sie es wäre und er sie zwanzig oder dreißig Jahre lang lieben würde, ohne ihre Körperlichkeit zu teilen – Qualen wären das, endlose Projektionen, Selbstverleugnung und vielleicht auch Hass. Nein, nicht vielleicht, sondern sogar ganz sicher Hass. War es möglich, dass Elsa diesen unnahbaren Geliebten umgebracht hatte? Natürlich war es möglich – alles war möglich in diesem Leben.
    Der Wind war plötzlich kalt geworden, und es roch nach näherkommendem Regen. Elsa Michelangeli hatte ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden, schien Atemübungen zu machen.
    «Kommen Sie, Signora, ich fahre Sie nach Hause.» Guerrini stand auf.
    «Ich gehe!»
    «Aber es wird gleich regnen.»
    «Ich gehe gern im Regen.»
    «Aber es ist ein Gewitter.»
    «Glauben Sie, dass mich ein Blitz erschlagen wird?» Sie hatte beinahe zu ihrer alten Ironie zurückgefunden.
    «Blitze sind gefährlich auf diesen kahlen Hügeln.»
    «Giorgio und ich sind häufig bei Gewitter draußen gewesen. Gewitter sind eine Quelle der Kraft …» Sie krümmte sich zusammen, als könne sie auf diese Weise den Schmerz zurückdrängen, der ganz offensichtlich wieder in ihr aufstieg. Die Wolken standen jetzt unmittelbar über ihnen und hatten den Rest der Welt ausgelöscht. Kalter Regen peitschte herab, und ohne Verzögerung folgte Donner

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