Wolfstränen - Roman (German Edition)
der Schmutzfinken. Jedermann fürchtete dort die Ursache für Krankheiten.
Unter seinem Verband veränderten seine ‚Freunde‘ ihre Position.
Die Schmerzen kehrten zurück.
11
Nell zerrte an den Handfesseln, die Meggy erneuert hatte. Diese junge Frau mochte eine gewisse Symphatie zu ihr empfinden, vielleicht sogar eine Freundin suchen, dumm war sie jedoch nicht. Meggy hatte den Auftrag, sich um sie zu kümmern und den führte sie gewissenhaft aus.
Nell hatte eine schlaflose Nacht verbracht.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Führte Adrian Blackhole tatsächlich ein Doppelleben? Die Indizien sprachen dafür. Rational gesehen musste es so sein, eine Erkenntnis, die Nell zutiefst erschütterte.
Sie war in ein gefährliches Abenteuer geraten, mit dem sie nicht das Geringste zu tun hatte. Meggys Freund war ein schreckliches Schicksal widerfahren, aber auch das war nicht Nells Schuld. Im Gegenteil – es erfüllte sie mit Zorn und Mitleid.
Befand sie sich in Lebensgefahr?
Vermutlich.
Man hielt sie für Blackholes Geliebte. Der Gedanke war nicht weit hergeholt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Nell hätte sich möglichen Annäherungen durch Adrian nicht widersetzt. Diese Sichtweise hatte sich inzwischen geändert … redete sie sich ein.
Gegen Mittag öffnete sich die Bodenluke und Meggy krabbelte in den Verschlag.
Sie nahm Nell die Handfesseln ab und versorgte sie mit Brot und Wein.
Sie redeten lange miteinander. Meggy war traurig und einsam. Sie teilte ihre Gefühle mit Nell, trank Wein und als der Abend sich näherte, flossen Tränen. Sie berichtete von dem Streit, den sie mit Bernard gehabt hatte.
»Und was bist du für eine?«, fragte sie später und stützte ihr Kinn in ihre Hand. Ihr Blick fiel auf Nells Oberarm. Der Stoff des Kleids war zerrissen und gab die bloße Haut frei, auf der eine handlange verheilte Narbe rosa schimmerte. »Das is‘ ‘ne böse Narbe.«
Nell blickte an sich herab. Die Narbe! Sie hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht. So sehr sie sich anzustrengen versuchte, erinnerte sie sich nie wirklich an deren Herkunft. »Meine Eltern sagten mir, ein Hund habe mich gebissen!«
»Muss verdammt weh getan haben.« Meggys Fingerspitzen glitten mitfühlend über die verheilte Haut.
»Ich war noch so klein, daß ich mich an nichts mehr erinnere.« Nell zuckte die Achseln.
»Du hast noch Eltern?«
Nell schüttelte den Kopf. »Nein – sie starben vor sechs Jahren, als ich dreizehn war. Sie reisten nach Indien. Vater wollte dort Geschäfte machen. Sie blieben länger als geplant und starben am Gelbfieber.«
»Und dann? Was war dann?«
»Meine Eltern hinterließen mir nichts. Das Haus war beliehen und die Gläubiger nahmen sich, was sie kriegen konnten. Ehemalige Freunde wollten sich meiner annehmen, als Gegenleistung erwarteten sie ...« Nell verstummte.
»Ich verstehe«, sagte Meggy. »Schweine sind ‘se. Jedenfalls die Meisten!«
»Ich machte dabei nicht mit. Ich wollte mein Leben alleine in die Hand nehmen. Ich arbeitete als Näherin und verdiente mir auf ehrliche Weise was dazu. Da lernte ich Jim kennen. Er war Schmied. Er war ein netter Kerl und wir heirateten. Ich hatte etwas gespart und er auch, also mieteten wir uns ein kleines Haus in einer schmalen Gasse bei der Commercial Road. Jim bekam einen ganz besonderen Job. Er sollte ein paar Pferde nach Frankreich bringen, denn er kann ein Pferd ebenso gut versorgen wie beschlagen. Er war drei oder vier Monate weg. Bald kamen die Pfänder ins Haus. Sie sagten, Jim würde nie wieder zurückkommen und als ich die Miete nicht mehr zahlen konnte, nahmen sie mir alles weg. Ich verkaufte die Bettwäsche und solche Sachen und behielt etwas mehr als ein Pfund übrig. Jim kehrte zurück! In ein leeres Haus! Er war ein paar Tage zu spät gekommen. Statt der erwarteten zwölf Pfund brachte er gar nichts mit. Sein Auftraggeber hatte ihn betrogen. Wir mußten wieder ganz von vorne anfangen.«
Meggy seufzte und verdrehte ihre Augen. Ihre Wangen waren feuerrot. »Is‘ ja schrecklich. Gibt’s eigentlich nur schreckliche Geschichten in dieser Zeit?«
»Jim fing an zu saufen und als er dann auch noch krank wurde und einen Job nach dem anderen verlor, waren wir ganz unten. Ich machte Nachthauben für Frauen und verkaufte die an einen Ladeninhaber. Als ich schließlich meinen Ehering versetzen mußte – er brachte mir vier Schilling! – war alles zu spät. Wir saßen oft im Dunkeln, denn wir konnten weder Kerzen noch
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