Wolfstränen - Roman (German Edition)
sie wie ein Engel. »Weil wir beide abhauen werden!«
12
Der Himmel strahlte blau und die seltene Herbstsonne wärmte London.
Kinder rannten ausgelassen hinter Bällen her und Spaziergänger, die ihre Gesichter mit Schirmen vor der Sonne schützten, flanierten durch die Straßen.
Nell und Meggy gaben ein seltsames Paar ab. Eine in Lumpen, verdreckt bis in die Haarspitzen, die andere mit gepflegter Haut, gepflegten Haaren und einem blutbeschmierten Kleid.
Verwunderte und mißbilligende Blicke folgten den Frauen.
»Wie zauberhaft«, sagte Meggy und blieb vor einem Schaufenster stehen. Sie hüpfte auf und ab wie Kind. »So ’nen Hut hätte ich auch gerne mal.«
Der Ladenbesitzer stürmte auf den Gehsteig hinaus. »Haut ab!«, hetzte er. Seine Wampe schwabbelte über einer engen Hose. »Ihr vertreibt meine Kunden.« Er musterte Nell kurz, blinzelte und ging kopfschüttelnd zurück in seinen Laden.
»Am liebsten würde ich ihm ...«
»Is‘ schon gut!«, sagte Meggy. »Gehen wir weiter!«
Nell bebte vor Zorn. Man sollte diesem arroganten Kerl eine Lektion erteilen.
Da sie kein Geld hatten, mußten sie den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen. Im Gegensatz zu Nell hatte Meggy keine Probleme, sich in den verwinkelten Straßen und versteckten Torwegen zurechtzufinden. Londons Straßen waren ihre Heimat. Neben ihr kam Nell sich wie ein hilfloses Mädchen vor.
Sie waren auf dem Weg nach Stairfield House. Mit etwas Glück waren Drought und Blackhole noch nicht aus Canterbury zurückgekehrt. Nell und Meggy würden ein ausgiebiges Bad nehmen, sich neu ankleiden und Pläne schmieden.
Dennoch hatte Nell ein schlechtes Gewissen.
Meggy hinterging ihren Freund. Sie missbrauchte sein Vertrauen und wenn Nell den Legenden der Straße glauben konnte, würde Meggy für ihre Unloyalität hart bestraft werden.
Was bezweckte Meggy?
Nell würde sie fragen, später, bei einem guten Schluck Portwein!
»Du machst dir Sorgen, richtig?«, fragte Meggy.
»Ja.«
»Brauchste nich‘. Mit Bernard werde ich schon fertig. Er is‘ ‘ne gute Seele. Man muß nur wissen, wie man ihn anpackt. Sonst wird ihn die Sache irgendwann umbringen, und was hab‘ ich dann davon?«
»Hexe«, sagte Nell mit gespieltem Ernst.
»Manchen Kerlen muß man eben zeigen, wo’s langgeht.«
»Wie lange werden wir bis Stairfield House brauchen? Mir kommt hier alles so fremd vor.«
»Wir sind erst zwei Stunden unterwegs.« Meggy bohrte in der Nase. »London is‘ ‘ne große Stadt.«
»Das merke ich«, stöhnte Nell. Ihre Füße schmerzten.
»Das wichtigste ist, daß du bald zuhause bist!«
»Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will«, sagte Nell. »Stairfield House wird für mich nie wieder sein, was es mal war.«
»Ach, Quatsch! Wahrscheinlich sind Bernards Vermutungen nix als Hirngespinste. Außer diesem dummen Siegelring hat er keine Beweise.«
»Aber ich habe welche!«
Meggy blieb stehen und starrte Nell an.
»Ja, ich habe Beweise.«
»Ich kann’s nich‘ glauben«, stammelte Meggy. »Wieso?«
»Ich bin in Blackholes Arbeitszimmer eingebrochen.«
»Ja und?«
Es war heraus. Endlich hatte Nell sich offenbart. Sie erzählte Meggy alles. Von der Glaskugel, dem Buch und der Silbermaske. Meggy wurde bleich und mußte sich an einem Laternenpfahl festhalten.
»Also noch ‘ne Hexe«, murmelte sie ohne Humor.
»Meggy, ich ...« Nell legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter.
»Nee, laß mal.« Meggy schlug die Hand weg.
Zum erstenmal sah Nell, wie tief Meggys Augen lagen, wie eingefallen ihre Wangen waren und wie gebeugt ihre Körperhaltung. Sie soff zuviel und aß zuwenig. Sie schlief schlecht und fror acht Monate im Jahr. Sie war eine zerbrechliche Person, und ohne ihren Optimismus und ihre Liebe zu Bernard würde sie vermutlich nicht mehr leben. Sie tat Nell leid.
»Dann hat er die ganze Zeit recht gehabt«, flüsterte sie. »Und ich dachte, er hätte sich in was reingesteigert. Und du wußtest es auch und hast mir nix gesagt.«
Nell hielt es für klüger zu schweigen.
»Vielleicht hätt ich dich nicht laufen gelassen, hätt ich’s gewußt.«
Sie standen sich gegenüber und sahen sich an. Meggy fuhr sich durch das Haar und warf den Kopf in den Nacken. Sie schneuzte sich geräuschvoll und spuckte aus.
»Meggy, es tut mir Leid.«
»Das braucht es nicht. Für dich muß es auch schwer sein. Immerhin liebs’te diesen Bastard.« Meggy straffte sich. Ihr Gesicht wurde weich und ihre Augen schimmerten feucht. »Ich bin ‘ne dumme
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