Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
fischen zu sehen, und fühlte sich mit einem Mal einsam, wenn sie ausblieb. Und als ihr Kätzchen groß genug war, um selber zu fischen, war er doppelt froh.«
»Das kleine Kätzchen konnte alleine fischen?«
»Ja. Es hatte viel von seiner Mutter gelernt.«
»Ist das eine Geschichte über Tiere, die Freunde sind, obwohl sie meinen, sie könnten keine sein?«, fragte Rose.
»Ja. Genau wie bei Nanny und dir.«
»Nein, nicht wie bei Nanny und mir.« Sie sah Dr. Neill eindringlich an.
»Nein?«
Rose schüttelte den Kopf.
»Ich denke schon«, sagte ihre Mutter.
»Nein«, entgegnete sie störrisch. »Der Adler hatte einen gebrochenen Flügel.«
»Richtig«, bestätigte Dr. Neill.
»Hatte das kleine Kätzchen seltsam abgeflachte Pfoten?« Rose hielt ihre Hände empor und wackelte mit ihren keulenförmigen Fingern.
»Stimmt.«
Rose nickte. Sie warf ihrer Mutter einen Blick zu.
»Schwarze Katze«, sagte sie und berührte das glänzend schwarze Haar ihrer Mutter. Dann wandte sie sich Dr. Neill zu und berührte seine Prothese. Sie ersparte sich die Mühe, ihn auf seinen ›gebrochenen Flügel‹ hinzuweisen.
Als das Taxi in den Logan Airport einbog, seufzte Rose. Dr. Neills Geschichte war schön, aber sie konnte Nanny nicht zur Umkehr bewegen. Sie war froh, dass es ihr besserging – dass die Operation erfolgreich verlaufen war und sie nach Hause durfte, um den Sommer zu genießen. Aber was zählte das schon, wenn Nanny sich verirrt hatte und nach Süden schwamm? Konnte nicht endlich einmal alles glattgehen?
Meine Sturm-und-Drang-Zeit ist vorbei, dachte Patrick. Sich ganze Nächte im Dienst um die Ohren schlagen, geistig hellwach und körperlich topfit sein, mit scharfen Augen, denen nichts entging – das war einmal. Er erinnerte sich an Observationen rund um die Uhr, an Verbrecherjagden kreuz und quer durchs ganze Land, an Ermittlungen, bei denen man die zuständigen Gerichtsinstanzen in zwölf Bundesstaaten zuzüglich Kanada abklappern musste. Doch die Strecke von Silver Bay über die I-95 zum Maine Turnpike und von dort immer geradeaus bis Cape Hawk – die hatte es in sich gehabt. Er war erst sechsundvierzig, aber er kam sich vor wie ein alter Tattergreis.
Nachdem er die ›Anmeldeformalitäten‹ in Marlena Talbots ›Pension‹ erledigt hatte – er hätte wetten mögen, dass sie normalerweise keine zahlenden Gäste aufnahm –, folgte er ihr in ein ausnehmend hübsches Schlafzimmer im ersten Stock, bedankte sich und legte sich kurz aufs Ohr.
Drei Stunden später, als er das Mittagessen und den größten Teil des Nachmittags verschlafen hatte, fand sich Patrick in Marlenas Esszimmer ein. Er rieb sich die Augen, griff nach dem Glas Cola, das sie ihm eingeschenkt hatte, nippte daran und sah sich um. Er fühlte sich völlig ausgelaugt, nachdem er die ganze Nacht durchgefahren war, als hätte er einen Jetlag; das war der Preis, den er für seine Unvernunft zahlen musste.
»Im Ernst, ich kann doch im Gasthof zu Abend essen«, beteuerte er.
»Kommt nicht in Frage!«, erwiderte sie. »Das ist einer der Vorzüge meines Etablissements – Sie bekommen richtige Hausmannskost vorgesetzt. Kann der Gasthof das bieten? Ich denke nicht.«
»Etablissement.« Er trank einen größeren Schluck Cola und sah sich erneut um. Ein anheimelnder Raum. Nippes überall – persönlicher Schnickschnack wie Briefbeschwerer aus Ton, offensichtlich von Kindern oder Enkelkindern gebastelt, bestickte Kissenbezüge auf jeder Sitzfläche, schmucke Stickmustertücher an der Wand und ein Stapel quadratischer Kissen, die nach Kiefern dufteten und die Aufschrift ›Bringt Rose Heim‹ trugen.
»Ja. Mein Etablissement. Es ist nicht leicht, im Schatten des Cape Hawk Inn zu stehen. Mit seinem zentralisierten Buchungssystem und einer ganzen Flotte von Walbeobachtungsbooten ist der Gasthof ein Konkurrent, mit dem man nur schwer mithalten kann. Ich habe nur meine Hausmannskost, um Touristen an Land zu ziehen und meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.«
»Wenn Sie meinen.« Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. Wieso hatte die Frau aus dem Gasthof nicht angerufen? Was war mit Camille Neill?
Marlena werkelte in der Küche. Patrick holte den Zeitungsartikel und Maras Bild heraus. Marlena betrachtete es mit versteinerter Miene. Sie überflog die Meldung, nahm das dunkle Haar, das strahlende Lächeln und die Tatsache zur Kenntnis, dass Mara Jameson schwanger gewesen war, als sie spurlos verschwand. Bedauere, sagte sie, sie
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