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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Rücken lief.
    Die Luft wurde allmählich wärmer, verlockte zum Schwimmen. Doch die Gewässer im hohen Norden waren immer noch kalt nach den gewaltigen Schneemengen des Winters, die zu schmelzen begannen und die Flüsse füllten, die in den Golf strömten. Doch an einem frühsommerlichen Tag wie diesem schweiften Liams Gedanken leicht in die Vergangenheit ab. Als er zwölf, Jude elf und Connor neun Jahre alt war. Er lief Gefahr, sich vorzustellen, sie wären noch zusammen. Unzertrennlich, wie damals, als er noch beide Arme gehabt hatte, vor Connors Unfall.
    Aber er hatte sich angewöhnt, solche Gedanken im Keim zu ersticken – Sommertag hin oder her –, und ging an dem steinernen Fischer vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; dann erklomm er die Stufen zu seinem Büro, wo er die Tür hinter sich zuknallte.

    Lily Malone saß zu Hause auf der Veranda und stickte, während Rose im Garten kniete. Sie trug ihre Lesebrille, die sie neuerdings brauchte – mit pinkfarbener Fassung, um der Notwendigkeit einen heiteren statt trübseligen Anstrich zu verleihen. Sie spähte hin und wieder über den Brillenrand, um ihre Tochter im Auge zu behalten, während sie gleichzeitig versuchte, das Projekt unbemerkt fertig zu stellen. Jedes Jahr hatte sie ihrer Tochter ein Stickbild zum Geburtstag geschenkt, und es gehörte mit zum Spaß, dass sie es versteckte und Rose vorgab, überrascht zu sein.
    »Mom, schau doch«, rief Rose. »Die Trichterwinden kommen. Und hier – die ersten Zinnien. Zumindest glaube ich, dass es welche sind. Sie haben winzig kleine Blätter.«
    »Schau doch auf deiner Pflanzkarte nach«, schlug Lily vor.
    Rose rappelte sich hoch und ging zum Schuppen, in dem die Gartengeräte verwahrt wurden. Sie bewegte sich im Zeitlupentempo. Lily sah, wie sich ihre Brust hob und senkte, und zählte die Atemzüge. Sie warf einen prüfenden Blick auf die Gesichtsfarbe, die blass, aber nicht bleich war – auch ihre Lippen waren keine Spur blau. Ihr Gleichgewicht schien stabil zu sein – es war kein Anzeichen von Schwindel zu erkennen. Im Lauf der Jahre hatte Lily die Fähigkeit entwickelt, sich in Sekundenschnelle ein Bild von Roses Gesundheitszustand zu machen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ihr Urteil war nicht unfehlbar, aber wenn sie ihr Augenmerk auf die kleinen Dinge, die Begleiterscheinungen richtete, lag sie mit ihrer Einschätzung meistens ziemlich richtig.
    »Mom, es sind wirklich Zinnien und Trichterwinden!« Rose tauchte aus dem Schuppen auf, die Pflanzkarte in der Hand, die sie im letzten Monat gezeichnet hatten, als sie die harte Erde im Garten umgegraben, mit Blumenerde vermischt und die kleinen Sämlinge eingesetzt hatten.
    »Prima, Rose!«
    »Ich möchte später einmal Horti – wie heißt das gleich wieder?«
    »Hortikulturist.« Lily lächelte.
    »Hortikulturist werden«, wiederholte Rose. »Gartenbau-Wissenschaftlerin. Doktor für Trichterwinden!«
    Lily hob den Blick. Immer wieder kam Rose auf das Thema Medizin zurück – damit war sie vertraut. Ärzte, Krankenhäuser, Untersuchungen, Therapien, Operationen … Lily versuchte den Wunsch zu unterdrücken, ihre Tochter möge ungetrübte Erfahrungen im Garten genießen – ohne an Ärzte zu denken.
    »Trichterwinden werden groß.« Rose kniete sich abermals auf den Boden, wischte Erde von den zarten Stengeln und empfindlichen grünen Blättern. »Dann ranken sie sich am Spalier hoch, bis zum Himmel.«
    »Mit leuchtend blauen Blüten.«
    »Ich bin froh, dass die ersten Knospen schon da sind.«
    »Schon?«
    Rose nickte. »Damit ich mir keine Sorgen um sie machen muss, wenn wir weg sind. Wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich vielleicht befürchtet, die Saat sei nicht aufgegangen. Ich freue mich, dass ich mir jetzt vorstellen kann, wie sie wachsen und gedeihen, während ich in der Klinik bin.«
    »Sie wachsen wie verrückt.« Lily lächelte und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie kämpferisch ihr in diesem Augenblick zumute war. »Sie wachsen den ganzen Sommer ohne Unterlass, bis in den September hinein. Und entfalten ihre Blütenpracht.«
    »Bin ich vor September wieder zu Hause?«
    »Bestimmt, Schatz. Du wirst nicht länger als eine Woche oder zwei in der Klinik bleiben müssen. Nach unserer Rückkehr wirst du noch genug vom Sommer übrig haben.«
    »Ist das die letzte Operation?«
    »Ja.« Lily war fest entschlossen, Rose niemals zu belügen, was die medizinische Behandlung betraf. Nicht, dass sie nicht

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