Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
alles getan hätte, um sie zu schützen, sie vor der harten Realität einer Herzpatientin abzuschirmen, sondern weil Rose ohnehin Bescheid wusste … Sie merkte jedes Mal, wenn ihre Mutter schwindelte, und sorgte sich dann nur umso mehr. Doch in diesem Fall war Lily so gut wie sicher – die Ärzte hatten ihr glaubhaft versichert, dass es mit dem Austausch des alten Flickens ein für alle Mal getan sein würde.
Rose kauerte sich nieder, die Hände in der Erde, und zupfte Unkraut. Sie wusste instinktiv, welche Pflanzen bleiben und welche entfernt werden sollten. Sie besaß einen grünen Daumen, die angeborene Fähigkeit, ein Blumenbeet zu hegen und zu pflegen, genau wie ihre Vorfahren. Lily erinnerte sich an ihre eigene Kindheit, an die Tage im Garten und an die Worte ihrer Mutter, die gesagt hatte, Gartenarbeit sei wie ein Gebet: Beides erforderte, schweigend und aufmerksam der Natur Wertschätzung entgegenzubringen. Dieses Gärtner-Gen hatte Rose geerbt, in ausgeprägter Form.
»Wieso wollte uns Jessicas Mutter eigentlich nicht im Haus haben?«, fragte Rose.
»Vielleicht hatte sie zu tun.«
»Jessie sagt, dass es in ihrer Familie ein Geheimnis gibt.«
»So etwas kommt in allen Familien vor.« Lily stickte langsamer.
»In Dr. Neills auch?«
»Mmmh.« Ein Rätsel war beispielsweise die Frage, warum er nie geheiratet hatte. Lily hatte mitbekommen, dass er hin und wieder mit einer Frau ausgegangen war – einer Ichthyologin aus Halifax, einer geschiedenen Frau aus Sydney. Aber Liam war ungebunden geblieben.
»Ich finde ihn nett.«
»Hmm.«
»Du nicht, oder?«
»Er ist mein Vermieter. Er ist ganz in Ordnung.«
»Aber du verhältst dich nicht so, als ob du ihn magst. Dabei ist er unser Freund.«
»Ich werde mir mehr Mühe geben«, versprach sie, wobei ihr Herz plötzlich schneller schlug.
»Ich würde ihn gerne zu meiner Geburtstagsparty einladen.«
Lily blickte wortlos über den Rand ihrer fuchsienfarbenen Lesebrille. Rose erwiderte ihren Blick mit ernster Miene – eine Herausforderung lag in den grünen Augen.
»Es ist meine Party.«
»Ich weiß, aber die Nanouks sind auch eingeladen. Und du kennst ja unsere Keine-Männer-Regel. Das wurde in unserer Satzung festgelegt und von allen unterschrieben – von dir auch, erinnerst du dich? Bei unseren Clubtreffen sind nur Frauen zugelassen.«
»Können wir keine Ausnahme machen? Eine Geburtstagsparty-Ausnahme?«
Lily presste die Lippen zusammen. Es fiel ihr schwer, Rose etwas abzuschlagen. Ihre Tochter war das aufrichtigste Kind der Welt, das nie auf die Idee gekommen wäre, andere zu manipulieren – wenn sie einen Wunsch hatte, äußerte sie ihn ohne Umschweife. Unausgesprochen blieben nur Empfindungen, die in Zusammenhang mit der bevorstehenden Operation standen. Jede Bitte von Rose betrachtete sie mit einem quälenden Hintergedanken: Was war, wenn sie nein sagte und es die letzte Bitte ihres Kindes wäre? Sie schüttelte den Kopf, führte sich vor Augen, dass sie kein Weltuntergangs-Prophet, sondern Mutter war.
»Nein, Rose. Das wäre nicht fair gegenüber den anderen Nanouks. Wir könnten ihm ein Stück von deinem Geburtstagskuchen aufheben. In Ordnung?«
»Nicht in Ordnung.« Rose grub eine Zeitlang weiter. Dann ließ sie ihren Unkrauthaufen im Gras liegen und eilte die Verandastufen hinauf. Lily schirmte ihre Stickerei ab, damit Rose sie nicht sah, doch das hätte sie sich sparen können. Ihre Tochter stürmte schnurstracks an ihr vorbei ins Haus und knallte die Fliegengittertür hinter sich zu.
Lily holte tief Luft. Sie dachte an ihre Keine-Lügen-Strategie und fragte sich, ob Rose ahnte, dass sie diese soeben in den Wind geschossen hatte. Denn der Grund für ihre Unwilligkeit, Liam zur Party einzuladen, hatte nichts – oder zumindest sehr wenig – mit der Bootsfahrt und den Nanouks zu tun.
Gar nichts, genauer gesagt. Lily versuchte, ihre Hände ruhig zu halten und weiterzusticken. Die breite Nadel glitt durch die weißen Gitterquadrate, hinein und hinaus, eins nach dem anderen, während sie sich bemühte, jeden Gedanken auszuschalten. Es gab einiges, woran sie nicht denken wollte: an die Operation ihrer Tochter in der nächsten Woche, an die Frage, ob das Stickbild rechtzeitig fertig sein würde, und an Liam Neill. Ein warmer Wind wehte, und die Sonne brannte auf Roses Rosengarten hinab. Lily bewegte unermüdlich die Nadel und versuchte, das Bild fertig zu stellen.
Rose lief in ihr Zimmer. Auf der Rückseite des einstöckigen
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